Die polnische Regierung muss zahlreiche Konfliktherde in und außerhalb von Polen beschwichtigen. Die Meinungen über den Ausgang sind im Prinzip zwei. Eine Gruppe sieht darin das nahe Ende und die andere eine Stärkung und Etablierung der PiS-Regierung. In meinen Augen ist die aktuelle politische wie gesellschaftliche Lage eine Notwendigkeit des kulturellen Fortschritts.
Inhalt
Was ist da eigentlich Los? Alle Fronten
Schaut man sich die Abendnachrichten im polnischen Fernsehen an, kann man kaum glauben, was in Polen aktuell los ist. Es gibt kaum einen Bereich, der nicht von Konflikten dominiert wird.

Seit Wochen kann man in den Medien den Rechtsstreit darüber verfolgen, wer am 11. November, am Unabhängigkeitstag, auf der bekanntesten Marschstrecke seine Version des Unabhängigkeitsmarsches durchführen kann. 2011 organisierte das radikal-nationale Lager den ersten gutbesuchten Unabhängigkeitsmarsch, auf dem es zu brutalen Zusammenstößen kam. Seitdem wuchs die Demonstration zu einem Großereignis heran und spaltet immer mehr die Gemüter. Schlägereien, Transparente, die die „weiße Rasse“ verherrlichen und eine Atmosphäre der Menschenverachtung sind das Aushängeschild dieser Märsche. Traurig, dass man auf diesen Zügen durch die Warschauer Innenstadt Familien mit Kindern sieht. Schließlich unterstützt man durch die Teilnahme nicht die Faschisten und Rassisten, oder? Für dieses Jahr hat der radikale Verein, der die Märsche organisiert, keine Genehmigung erhalten. Stattfinden soll der Marsch trotzdem, womöglich unter Leitung des Staates. Da bin ich mal gespannt, ob die höchsten Würdenträger Schulter an Schulter mit radikalen Glatzköpfen und Schlägertrupps marschieren werden.
Im ganzen Land wurden letzte Woche Demonstrationen organisiert, nachdem in den Medien berichtet wurde, wie im September 2021 in der südpolnischen Stadt Pszczyna eine 30-jährige Frau im 22 Monat verstarb, weil die Ärzte abgewartet hatten, bis das Kind im Mutterleib stirbt, obwohl sich das Leben der Frau in Lebensgefahr befand. Vor einem Jahr entschied das polnische Verfassungstribunal, dass Abtreibungen bei schwerwiegenden Missbildungen des Kindes nicht erlaubt sind, was nicht nur große Demonstrationen in ganz Polen nach sich zog, sondern auch dazu, dass Ärzte bei Fällen, wie dem eben beschriebenen, Angst vor der Staatsanwaltschaft haben einzugreifen, bis die Sache nicht „eindeutig ist“.
Seit dem 16. September wurde das „Weiße Städchen“ eröffnet. Das Angestelltenpersonal des Gesundheitsbereichs hat vor der Kanzlei des Premierministers in Warschau Zelte aufgestellt und eine Dauerdemonstration begonnen. Das Ende ist nicht in Sicht. Auch die Landwirte haben eine eigene Partei, die Agrounia, gegründet und haben genug von den leeren Versprechungen der Regierung. Aber auch aus den Bereichen Bildung, Justiz und Verwaltung strömen Scharen von Demonstratnen aus Warschau. Die Berufen in diesen Bereichen werden in Polen, traditionell, sehr schlecht bezahlt. Die Würdigung dieser Berufe lässt ebenfalls viel zu wünschen übrig.
LGBT? Das Thema ist im Prinzip täglich auf der Agenda der Medien. Was eigentlich schon längst geklärt war, also der Schutz und rechtliche Gleichstellung der Minderheiten, wird von der regierenden PiS hinterfragt. Die Politiker bezeichnen die LGBT als Ideologie, die die Existenz von 38 Millionen Menschen bedroht. Damit hängt natürlich der sichtbare Widerstand der jungen Generation gegen die Kirche zusammen. Die Kirchenoberhäupter der polnischen katholischen Kirche haben nicht verstanden, dass die achtziger schon vorbei sind. Ob die Kirche sich, wie wir alle, an die neue Zeit wird anpassen können?
Am 9. November begann die erste Gerichtsverhandlung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zwischen der Tschechischen Republik und Polen. Es geht um den Kohleabbau im Bergwerk Turow in der Nähe von Zittau, nahe der tscheschischen Grenze, der eine schnellere Senkung des Grundwasserspiegels zur Folge hat, als erwartet. Die Tschechen wollen den sofortigen Abbaustop. Polen muss bis zur Entscheidung täglich 500 Tausend Euro Strafe zahlen. Bis heute sind es schon 25 Millionen Euro.
Am 8. November sind Tausende von Flüchtlingen auf dem Weg zur polnisch-weißrussischen Grenze. Die ganze Welt berichtet über das Geschehen. Polen will eine Mauer bauen, aber diese kann erst nächstes Jahr abgeschlossen werden. Der Premierminister und andere Regierungsmitglieder betonen, dass Polen auch ohne EU gut zurecht kommt.
Am 19.10.2021 gab es eine Debatte im Europäischen Parlament über die Reformen des Justizsystems. Die EU-Institutionen kritisieren das Vorgehen der polnischen Regierung und verlangen eine Rückgängigmachung der rechtlichen Bestimmungen. Der Premierminister war jedoch stets auf Angriffskurs. Von Einsicht keine Spur.
Seit der Wahl von Joe Biden zum Präsidenten der USA ist auch auf der Linie Polen-USA kein echter Konsens zu erkennen. Es ist das erste Mal seit 1990, dass eine polnische Regierung eine US-Administration öffentlich kritisert. Es ging vor allem um den Bau der Nord-Stream-2-Pipeline und der Vergleich der polnischen Regierung mit anderen autoritären Regierungen. In den Augen der Polen haben die USA mit Deutschland und Russland hinter Polens Rücken einen Deal geschlossen und Joe Biden wird zudem als Vertreter der links-liberalen Welt, also der politischen wie kulturellen Gegener der PiS-Welt angesehen.
Da sind nicht alle Konfliktherde, aber man hat das Gefühl, dass die ganze Gesellschaft in Bewegung ist. Vor zehn Jahren gab es eigentlich nur in Städten wie Warschau, Krakau oder Danzig größere Demonstrationen. Jetzt sind auch mittelgroße Städte und manchmals sogar Kleinstädte sehr aktiv.
Der Kampf um Anerkennung

Es ist viel schwieriger in Freiheit zu leben, als sie sich zu erkämpfen. Die Welt in den 80ern war sehr einfach strukturiert. Es gab keine Arbeitslosigkeit, keine LGBT-Bewegung, alle waren katholisch und die Führung übernahmen unsere Helden Johannes Paul II. und Kompane Lech Walesa. Die Gesellschaft, das waren schlicht Kommunisten und Anti-Kommunisten. Dann kamen die 90er Jahre, die Welt in Polen wurde wüst und leer, Chaos und Anarchie übernahmen die Herrschaft. Nach dem Chaos kehrte Ruhe ein, zumindest für eine Weile. Das Land wurde aufgebaut, die Wirtschaft mit ausländischer Währung angekurbelt das Finanzsystem reguliert. Gezahlt hat Polen mit niedrigen Arbeitskosten und über 2 Millionen Auswanderern in den reichen Westen. Und nun, dreißig Jahre später, befindet sich Polen in Chaos, und das in nahezu allen Bereichen.
Solche gesellschaftlichen Umschwünge passieren in Polen das erste Mal, ohne dass andere politische Mächte in das Geschehen eingreifen, sprich: das erste Mal in einem freien und unabhängigen Polen. Und auch zum ersten Mal kämpfen die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen um gegenseitige Anerkennung. Es passiert in Polen eigentlich etwas schönes, eine notwendige Entwicklung auf dem Weg in eine liberale Gesellschaft mit klar festgelegten Gruppen. Es ist ein wundervoller Moment der Neuordnung, sodass alle an der Zukunft des Landes teilhaben könnten. Das Problem hier ist jedoch, dass in diesen Zeiten der Veränderungen und des Umschwungs von einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts in eine moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine führende und ordnende Hand fehlt. Die polnischen Institutionen und deren Leitungspersonen sind zu schwach, um diese Bürge auf sich zu nehmen.
Daher passiert das, was ich in einem anderen Beitrag beschrieben hatte; die polnische Gesellschaft blinkt nach rechts, biegt jedoch nach links ab.
Am 11. November zelebrieren wir die Unabhängigkeit von 1918, welche 1939 erneut verloren gegangen ist, um erst 1990, erneut, erkämpft werden konnte. Das Polen der Zwischenkriegszeit war zu kurzweilig und zu sehr auf den Wiederaufbau fixiert. Die Jahre 1921 – 1926 waren von einer Militärdikdatur geprägt, 1926 bis 1939 regierte eine Militärjunta, welche keine sozialen Umschwünge oder kulturellen Fortschritt förderte oder auch duldete. Die Zeit zwischen 1939-1989 und insbesondere der Widerstand während des 2. Weltkrieges sowie die Solidarnosc-Bewegung, die Zeit von Kongresspolen 1815 – 1915 (1915-1918) mit den Aufständen 1830 und 1863 und das Ende der Königlichen Republik Polen-Litauen 1772 – 1795 sind allesat geprägt von Auseinandersetzung zwischen der Bevölkerung und dem jeweiligen Staatsapparat.
Das Polen von heute führt, als Gesellschaft, führt einen Wechsel durch, den es in dieser Gestalt noch nicht gab, einen kulturellen Generationenwechsel. Was wir selbst begonnen haben, müssen wir womöglich auch alleine zu Ende bringen. Dieses Mal nicht nur nicht gegen den Staat, sondern auch ohne seine Hilfe.
Lieber Thomas,
vielen Dank für Deinen Kommentar, doch leider können wir mit Deiner Aussage nicht viel anfangen. Du musst Dir schon die Mühe machen und Deine Behauptung ausführen. Wenn es ganz anders ist, wie Du behauptest, sind wir sehr daran interessiert Deine Welt besser kennenzulernen.
Hallo Antoni,
der nachfolgende Beitrag beschreibt die Situation in Polen, Polen und EU, glaube ich, ganz treffend:
After Brexit: How Poland Replaces the UK
https://www.theglobalist.com/after-brexit-how-poland-replaces-the-uk/