Wer das Buch von Emilia Smechowski „Rückkehr nach Polen“ liest, hat am Ende viele Frage. Die meisten Fragen tauchen vor allem beim nächsten Polenbesuch auf, weil es eine falsche Erzählung mit den falschen Akteuren ist. Auf Amazon kann man nachlesen, dass „Smechowski vom Alltag voller Widersprüche erzählt […], um zu verstehen: Was ist seit 1989 passiert, dass so viele Menschen nicht mehr an den Wert der Freiheit glauben?“ Das einzig richtige in diesem Satz ist die Festellung, dass der „Alltag voller Widersprüche“ steckt. Die polnische Gesellschaft befindet sich tatsächlich in einer Umgestaltungsphase. Der vermeintliche Rechtsruck ist jedoch ein Linksruck mit Umwegen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Städte die Macht übernehmen und sich das gesellschaftliche Profil von einem ländlich-konservativen in ein städtisch-liberales wandelt.
Die freiheitliche Illusion
Das Ziel (je)der Philosophie ist Glück, allerdings nicht ihre Norm. Die Norm ist die Wahrheit. Die Frage lautet oft, ob es nicht besser wäre nichtfragend und somit nichtwissend durch das Leben zu schlendern. Doch diese Frage stellt sich dann nicht mehr, wenn das Los mit voller Wucht zuschlägt oder der Nichtwissende zum Fragenden wird und der Spiegel zerbricht. Kommt die Wahrheit ans Licht, zerfällt alles wie ein Kartenhaus. In einer solchen Illusion lebte die polnische Gesellschaft. Die Freiheit, vor allem auf dem Lande, war eine Farce, so wie der Kommunismus eine Farce der Staatsführung war. Aus dieser Illusion möchten nun viele Ausbrechen. Die Konsequenzen waren daher vorauszusehen. Die ländliche Bevölkerung (außer die Bauern) hat nach der wirtschaftlichen Schocktherapie gelitten wie kein anderer Teil der Bevölkerung. Nun müssen sie zusehen, wie die Provinz quasi geschlossen wird. Willkommen im 21. Jahrhundert!
Die polnische Stadt: das fünfte Rad am Wagen
Bis zum schwedisch-polnischen Krieg 1655-1660, auch als Schwedische Flut bezeichnet, waren Danzig, Elbing, Thorn, Posen, Warschau, Krakau, Lemberg und Lublin die größten Städte der Königlichen Republik Polen-Litauen. Den Städten wurden zwar Privilegien gewährt, allerdings nur einzeln. An der Etablierung und Entwicklung eines parlamentarischen Systems in Polen und Litauen im 15. und 16. Jahrhundert nahmen lediglich Krakau, Posen und Lemberg aktiv teil. Bei der Wahl des Königs von Polen Sigismund I. dem Alten (also noch vor der Freien Königswahl in Warschau) nahmen auch die delegationes der Stadt Danzig und anderer kleinerer Städte teil. Sie wurden jedoch nur um die Verkündung ihrer Meinung gefragt. Man sucht vergebens nach ihren Siegeln auf dem endgültigen Wahlakt.
In der gesellschaftlichen Hierarchie war das zum Teil deutsche geprägte Bürgertum im späten Mittelalter ziemlich weit unten. Daran sollte sich bis zum Ende der Rzecpospolita 1795 nichts ändern. Der Adel übernahm die führende Rolle im gesellschaftlichen Leben. In Warschau ging es sogar soweit, dass die Magnatenfamilien um die Altstadt herum ihre eigenen Privatstädte errichten ließen, um sich von der städtischen Jurisdiktion abzukoppeln. Die Städte verloren den Kulturkampf gegen den Adel und wurden zu reinen Beobachtern des politischen und kulturellen Geschehens degradiert.
Die Idylle auf dem Lande
In Polen regierten zunächst die Piasten, es folgten die Jagiellonen aus Litauen, anschließend wurden im sogenannten Kreis (kolo) in Warschau die Könige von Polen und Großfürsten von Litauen vom gesamten polnischen Adel (szlachta) gewählt. In den ganzen Jahrhunderten gab es keinen rechtlichen Unterschied zwischen dem höheren, mittleren und nieridgen Adel. Alle waren sie Mitglieder einer großen Adelsfamilie ohne Titel und Vorzüge. Es gab noch die Gruppe der Magnaten, welche mit Sonderrechten ausgestattet wurde, vor allem hinsichtlich des Erbrechts. Der Anteil des Adels an der Gesamtbevölkerung war beträchtlich und lag bei 10 bis 12 Prozent. Das Königliche Polen Zweier Nationen Polen und Litauen war eine konstitutionelle Monarchie. Die Staatslenkung übernahmen die Adeligen, darunter die Magnaten, und der König. Alle fanden sich wieder im Sejm und Senat, wo über Krieg und Frieden, Steuererhebungen und sogar über die Städte entschieden wurde. Die Städte hingegen schauten nur zu. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.
Die Adeligen genossen ihr Leben auf dem Lande in ihren Landshäusern. Sie durften nicht arbeiten, hatten Dank der legitimierten Leibeigenschaft stets genügend Arbeitskräfte zur Verfügung und verdrängten die Städte aus dem politischen Leben. Es enstand eine ländliche Idylle (poln. sielanka), die zum Maßstab wurde. Bis heute ist diese Verhaltensart nicht verschwunden. Charakteristisch für die Idyll ist der uneingeschränkte Freiheitsgedanke, die Sorgenfreiheit, die Nichteinhaltung von Regeln im Verkehr und in zwischemenschlichen Beziehungen sowie die große Angst vor Veränderungen und vor dem kommenden Zwang zur Einhaltung gesellschaftlicher Regeln. Willkommen im 21. Jahrhundert!
Nach der Flut kam wieder nichts
Die Schwedische Flut verursachte in Polen mehr Schaden als der 2. Weltkrieg. Bis heute ist in jeder schwedischen Kirche ein polnischer Kelch zu finden. Was die Schweden nicht mitnehmen konnten, warfen sie ins Wasser. Beim niedrigen Wasserstand 2014 fand man in der Weichsel in Warschau schwedische Kanonen, Gold und Schmuck. Nahezu 40 Prozent der Bevölkerung wurde getötet oder ist ausgewandert. Es gab kaum eine Stadt in der Krone, die nicht geplündert und verbrannt wurde. So geschehen mit Posen, Warschau und Krakau. Vor allem die stolze Königsstadt konnte sich von diesem Stoß bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr erheben. Warschau hatte mehr Glück, weil hier das politische wie kulturelle Zentrum lag.
1795 kam das nächste Drama: die Dritte Polnische Teilung wurde unter heftigem Druck und mit Hilfe von Bestechungsgeldern vom eigenen Parlament beschlossen und ratifiziert. Das polnische Königreich hat sich formell selbst abgeschafft. Für die Städte bedeutete es das Ende. Sie wurden zu Provinzstädten ohne Funktion degradiert. Warschau wurde Teil des Russischen Imperiums, Krakau ging an die Österreicher und Posen wurde eine preußische Stadt. Vor allem die Entwicklung in Russland war sehr schlimm, da die Russen die Städte im Weichselland in erster Linie als Festungen verstanden.
Eine pathologische Entwicklung
Die Bürger der Städte haben über Jahrhunderte keine dauerhaften Vereinigungen gegründet. Jede Stadt sprach für sich. Auch wenn Städte wie Danzig, Krakau und Thorn Mitglieder in anderen Vereinigungen wie der Hanse waren, blieben sie im Königreich Polen chancenlos und vor allem bedeutungslos. Die erste Ernst zu nehmende Aktion von Bürgern war der Schwarze Marsch in Warschau 1791. Das war jedoch viel zu spät. Nur vier Jahre später existierte Polen nicht mehr. Nach den misslungenen Aufständen von 1830 und 1863, die nur von den Städten getragen wurden, folgten harte Strafen für die Aufständischen und unbezahlbare Geldforderungen sowie wirtschaftliche Embargos. Es kam der 1. Weltkrieg und schließlich die Unabhängigkeit 1918. Doch die zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen haben nur einen scheinbaren Aufschwung bringen können. Im 2. Weltkrieg wurde die Millionenstadt Warschau zerstört, sodass man sogar überlegte die Hauptstadt nach Lodz zu verlegen. Lediglich Krakau entkam der Zerstörungswut der Nazis und Sowjets, war aber zu damaliger eine relativ kleine Stadt mit gerademal 250 Tausend Einwohnern. In Zeiten des Kommunismus ließ man der polnischen Intelligenz nicht sonderlich viel Spielraum. Die Entwicklung nahm durch den Bau von gigantischen Plattensiedlungen pathologische Zustände an, die bis heute sichtbar sind.
Fußball als Impuls
Bis zur Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine gaben sich die Städteverwaltungen große Mühe, um wieder in vollem Glanz zu erstrahlen. Und es ist ihnen gelungen! Die Welt hat wundervoll aufgebaute und restaurierte Städte gesehen. Sie haben sich herausgeputzt, auch wenn das mit der Autobahn nach Warschau nichts wurde. Die Landflucht ist im vollen Gange, seit knapp vier Jahren wandern zudem hunderttausende Ausländer aus Ländern wie der Ukraine, Indien, Bangladesch, Nepal oder den Philippinen in Polens Städte. Man schätzt, dass in Breslau mittlerweile 15 Prozent der Bevölkerung Ausländer sind. In Warschau können es 10 Prozent sein.
In den Städten ist nun das Geld, hier spielt sich das kulturelle Leben des Landes ab. Die wirtschaftliche Schocktherapie nach 1990 traf zunächst alle und vor allem die Landbevölkerung. Doch die Städte haben sich angepasst und verlinkt. Nicht nur untereinander, sonder auch mit der Welt. Daher verwundert auch nicht der Bruch Warschaus mit der traditionellen polnischen Küche. Kattowitz rühmt sich damit, dass es eine der grünsten Städte Polens ist, inmitten von Kohlekraftwerken und Bergwerken. Auch hier ist ein neuer Trend zu erkennen. Die Verlinkung mit der Welt führt unweigerlich zur Loslösung von der polnischen Provinz und somit auch vom alten polnischen Lebensstil mit all seinen Nuancen.
Stadt gegen Land
In Polen gibt es viele Ereignisse, die die Aufmerksamkeit Europas auf sich ziehen. Doch hinter den politischen und kulturellen Zwistigkeiten zwischen den Linken und Rechte, zwischen den Liberalen und Konservativen, steckt eigentlich nichts anderes als ein Kampf zwischen den Bewohnern der Städte und der Provinz. Die Letzteren wollen das altpolnische Idyll behalten, gut leben und nicht für mikrige Löhne schufften müssen. Das geht aber nur, wenn alles bleibt wie es ist, der Staat den Geldfluss ins Land umleitet und der Schwarzmarkt erhalten wird. Die Städter hingegen wollen den Anschluss finden an das die Welt umspannende Netz der Weltgemeinschaft. Und obwohl es scheint, als würde Polens Gesellschaft nach rechts drifften, ist es doch nur der letzte Aufschrei und der letzte Versuch das unabwendbare aufzuhalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Provinz wird zugestehen müssen, dass die „gute alte Zeit“ vorbei ist und sich den Gegebenheiten anpassen.
Es ist keine Frage von ein paar Jahren, vielmehr wird es sich hierbei um Jahrzehnte handeln. Noch leben 15,3 Millionen Menschen auf dem Land. 23,1 Millionen hingegen in den Städten, wovon 7,6 Millionen in Städten über 200 Tausend und 3,1 Millionen in Städten zwischen 100 und 199,9 Tausend Einwohnern. Allerdings sind das die offziellen Statistiken, die in Polen nicht stimmen können, weil hier kaum jemand dort gemeldet ist, wo er auch wohnt geschweige denn auch Steuern bezahlt. Die Landflucht ist im vollen Gange. Auf die Provinz zieht es niemanden! Die frustrierten und rechts wählenden Männer, die Rentner ohne Kaufkraft, die ältere Generation, die die Sprache der Jungen nicht versteht und die Politiker, welche sich den Frust der Landbevölkerung zu Eigen macht – sie alle haben keine Geschichte zu erzählen, der man folgen kann.
Traditionen sind wichtig
Warum nun sollten die Städte ihre Chance nicht nutzen und ein neues Gesellschaftsmodell aufbauen? Davor haben viele verständliche Angst. Die liberale Stadtbevölkerung mit ihren Hippstern vergißt zu oft, dass ihr Lebensstil nicht mit dem Lebensstil auf der Provinz kompatibel ist. Man kämpft mit viel Elan gegen die Kirche und vergißt leider auch hier, dass der Priester oft der einzige ist, der die eigene Oma noch besucht und sie unterstützt, weil man selbst keine Zeit dafür hat. Der Lebensstil in den Städten ist sehr einsam und bietet nicht für alles eine Alternative. Hier können Traditionen helfen die ganze Gesellschaft ins 21. Jahrhundert zu führen.
Den Städtern und zukünftigen jungen Götter aus den Städten kann ich nur ratschlagen, dass sie nicht denselben Fehler machen wie die Adligen im Mittelalter, als jene die Städte ausgeschlossen haben. Denn am Ende haben nicht nur sie, sondern ganz Polen verloren. Es muss also klar sein, dass weder die Städte noch die Provinz unabhängig voneinander funktionieren können. Es bietet sich daher vielleicht die einmalige Chance, dass die polnische Gesellschaft ohne Fremdeinfluss ein Gesellschaftsmodell entwickelt, von welchem alle gemeinsam schöpfen können. Dass sich etwas tun muss, steht ausser Frage. Das ländliche Modell ist kein schlechtes Modell gewesen, doch es bringt heute mehr Schaden als Nutzen. Staaten können globale Probleme nicht nur nicht im Alleingang lösen, sie können auch keine eigenen Gesellschaftsmodelle erstellen. Was uns bevorsteht ist eine Weltgemeinschaft, wo einer auf den anderen angewiesen sein wird.
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