Wie kommt Mordor nach Warschau?
„Das verändert mein Leben und ermöglicht mir die Flucht aus der Konzernwelt
Wenn man über Mordor spricht, so denkt man in erster Linie an die Brutstätte des Bösen, das Schwarze Land. In Mordor ist Sauron zu Hause und plant seinen nächsten Angriff, den er mit den hässlichen Orks auf brutale Weise in die Tat umsetzt. In Warschau denken wir vor allem an das Mordor an der Domaniewska-Straße (Mordor na Domaniewskiej) im Stadtbezirk Mokotow im Stadtviertel Sluzewiec. Es ist verrückt, wie eine absurde Idee dieser Gegend nachhaltig ein solches Attribut verleihen konnte. Wie kam es dazu?
Alles begann im Februar 2013, als Rafal Ferber, ein Angestellter in einem der zahlreichen im Viertel ansäßigen Konzerne, die Fanpage „Mordor na Domaniewskiej“ (die Domaniewska-Straße ist die Hauptschlagader des Viertels) ins Leben rief. Anfangs wussten nur 100 – 200 seiner Bekannten von dieser Seite. Man tauschte sich über das Geschehen im Viertel aus, zeigte die harschen Zustände bei der Anfahrt mit Bus und Bahn auf, belustigte sich über die Jagd der Korporaten nach Erfolg, Geld und Einfluss und nörgelte über den Druck der Vorgesetzten. Plötzlich im Jahre 2015 gelangt die Fanpage in die breite Medienwelt und, wie Rafal selber auf seiner Seite schreibt, „verändert das sein Leben und ermöglicht es ihm diese Korpowelt zu verlassen“. Er konnte sich nun ganz der Fanpage widmen und baute die Informationsflut erheblich aus. Die Facebook-Seite wurde zum Ventil für die schlechte Luft, die hier von morgens bis abends herrschte. Aus einem Scherzprojekt wurde ein psychologischer Rettungsanker und ein einkommensstarkes Produkt. Tolkiens Orks bekamen in Warschau konkrete Gesichter. Die Fanpage hat 2023 über 170 Tausend Follower.
Wir fahren nach Mordor
Die Bezeichnung Mordor ist mittlerweile ein fester Bestandteil der Warschauer Namensgebund für die Stadtviertel. Es ging soweit, dass jemand ein privates Ortseingangsschild mit „Mordor“ an einem der Laternen anbrachte. Leider fand die Stadtverwaltung das nicht so lustig und ließ das Schild abmachen. Doch Ende 2022 überließ die Stadt die Namensgebung von zwei kleinen unbenannten Straßenabschnitten den Anliegern. Die durften in einer Online-Umfrage Namen vorschlagen und darüber abstimmen. Die Wahl fiel auf die Gandalf-Straße und die Tolkien-Straße. Beide Straßenabschnitte befinden sich zwischen den Straßen Konstruktorska und Suwak. Eine grandiose Idee und ein Beweis dafür, dass Beamte auch Fantasie haben.


Anfangs war es wüst und leer

Weit und breit gab es hier nur Weiden mit grasenden Kühen. Auf dem alten Foto sind man in der Ferne vereinzelt Wohnhäuser. 1951 erklärt die kommunistische Regierung, dass an dieser Stelle ein weiträumiges Industriegebiet entstehen wird. Die Bauern und Kühe mussten das Feld räumen, Fabriken und Lagerhallen nahmen ihren Platz ein. Später kommen massive Plattenbausiedlungen hinzu. Das war Mordor bis zum Sturz des sozrealistischen Systems in Polen.
Dann kam der Knall
Schließlich kam der Kapitalismus, zwar langsamen Schrittes, aber mit einem gewaltigem Knall. Die alten Fabriken und Lagerhallen müssen weichen, an deren Stellen entstehen Einkaufszentren, Bürogebäude, Restaurants und moderne Wohnhäuser. Heute sieht die gleiche Kreuzung aus wie auf dem nächsten Foto, im Vordergrund eines der flächenmäßig größten Malls in Warschau Galeria Mokotow, im Hintergrund der Plattenbau und nur 200 Meter weiter verläuft auch schon die Domaniewska-Straße. Das alles nur ca. 7 Kilometer Luftlinie vom Warschauer Stadtzentrum entfernt.
Die Konsequenzen

Die Mall wurde nicht nur für die hier lebende Bevölkerung gebaut, sondern vor allem auch für die arbeitende Herrschar der sogenannten White-Collars. Allein in dieser Region arbeiten mittlerweile fast 150.000 Menschen. Stellen Sie sich nun vor, dass man nicht an eine U-Bahn-Verbindung gedacht hat. Oder anders: die U-Bahn-Linie wurde gebaut, allerdings verläuft sie weiter östlich. Diejenigen, die nicht schweißgebadet zur Arbeit kommen wollen, fahren mit dem Auto und verursachen so eine Verkehrs-Apokalypse. Immerhin steckt man in einem klimatisierten Gefährt fest. Die gestressten Anwohner, die aus ihrem eigenen Vorhof nicht herauskommen und deswegen schon tausende Beschwerdebriefe an die Stadtverwaltung verfasst haben, lassen dieses Gebiet aussehen, wie das Schlachtfeld vor Gondor. Es ist halt alles Mordor hier, sogar die Fahrt zu Arbeit…
Es ist halt alles Mordor hier, sogar die Fahrt zu Arbeit…
Aus eigener Erfahrung
Für dieses Viertel gibt es keine schönere und treffendere Bezeichnung. Diese Einschätzung kann ich im Jahre 2023 weiterhin aufrechterhalten. Nach fast 2 Jahren, die ich hier als Angestellter verbracht habe, stieg meine Motivation beträchtlich, um aus meinem Leben etwas zu machen und von hier zu verschwinden. Als Stadtführer und Blogger sitzt man nur selten in einem Büro. Aber immerhin war es eine Lektion fürs Leben.
Von 2020 bis 2023 habe ich hier auch gelebt und kann alle Berichte genervter Anwohner bestätigen. Zwischen 16 und 18 Uhr war es nahezu unmöglich aus dem Viertel herauszukommen. Man war gefangen in der Reihe der stehenden Autokolonne. Ich musste meinen Tag so einplanen, dass ich vor 16 Uhr von Zuhause wegkam. Zudem sind die gestressten Angestellten, die mit dem Auto zur Arbeit in die naheliegenden Büros kamen, echte Orcs, was das Parkverhalten betrifft. Die parken wo es nur geht, fahren alles platt und achten überhaupt auf die Interessen der Fußgänger und Fahrradfahrer. Das Mordor von Warschau ist ein misslungenes Bau- und Stadtplanungsprojekt und so schnell wird sich daran nichts ändern.
Lösungen

Einige Lösungsansätze wurden gemacht, doch der Stadt fehlen die finanziellen Möglichkeiten, um sich genau jetzt um das Warschauer Mordor zu kümmern. Es wird ja immerhin eifrig anderswo gebaut – Verlängerung der Metro, Abschluß des Warschauer Rings und Anbindung des langen Weichselufers. Die perfekte Lösung wäre eine Metro-Station an der Domaniewska-Straße. Doch das kann, wie gesagt, noch etwas dauern.
Bis dahin muss das Böse bekämpft werden. Immerhin wissen ja schon, dass Mordor fallen wird und neue schöne Zeiten werden kommen.
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