Auf meinen Führungen beginne ich mit allgemeinen Zahlen und Fakten über Warschau. Neben der Größe der Stadtfläche, den Durchschnittslöhnen oder dem Anteil der Vegetarier komme ich natürlich auch auf die Einwohnerzahl zu sprechen. Obwohl diese Statistiken in Polen nicht mit der Realität übereinstimmen, kann man zumindest die Grenzbereiche festlegen. Dahingehend hat sich in Warschau (aber auch in anderen Städten) in den letzten 10 Jahren sehr viel getan. Die Einwohnerzahlen sind, vor allem seit Februar 2022, durch die starke Einwanderung nach oben gegangen. Wie gehen die Polen mit diesen Ereignissen um? Dazu ein Wort zum multikulturellen Erbe Warschaus und Polens.
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Nahezu 10 Prozent mehr Einwohner
Der polnische Grenzschutz hat Anfang September bekannt gegeben, dass seit dem 24. Februar (nur zur Erinnerung: damals greift Russland die Ukraine ohne Grund an) über 6 Millionen Menschen die Grenze von der Ukraine nach Polen überschritten wurden. Alleine am 2. September waren es etwas mehr als 22 Tausend. Die Vereinten Nationen geben an, dass mehr als 11 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen haben. In Europa leben derzeit 6,8 Millionen Ukrainer, die vor Krieg geflüchtet sind. Diesen Abschnitt bitte nochmal lesen: das sind fast 25 Prozent der ukrainischen Gesamtbevölkerung.
In Polen sollen sich derzeit nach vorsichtigen Schätzungen zufolge ungefähr 4 Millionen Ukrainer aufhalten. Darin eingerechnet sind auch die Ukrainer, die hier schon vor dem Angriff im Februar lebten, also nach nach dem Überfall auf die Krim in Polen ein neues Leben aufbauen wollten. Demnach wäre jeder zehnte Bewohner Polens ein Ukrainer.
#Pomagamy🇺🇦
— Straż Graniczna (@Straz_Graniczna) September 3, 2022
Od 24.02 #funkcjonariuszeSG odprawili w przejściach granicznych na kierunku z🇺🇦do🇵🇱 6 mln os.
Wczoraj tj.02.09➡️ 22,2 tys.
Dziś do godz. 07.00➡️ 7,3 tys.
W dn.02.09 z🇵🇱do🇺🇦odprawiono 25,7 tys. osób. Od 24.02- ponad 4,208 mln os. pic.twitter.com/vWhHaGE2BB
Jeder sechste ist ein Ukrainer. Warschau ist voller geworden.
Ca. 70 Prozent der Ukrainer in Polen leben in den 12 polnischen Metropolregionen. So sind nach Angaben der Breslauer Stadtverwaltung nahezu 30 Prozent der Stadtbewohner ukrainischer Abstammung. In Warschau sind es derzeit ungefähr 18 Prozent bei einer Gesamtzahl von 250 Tausend Menschen. Dabei sind die Zahlen nur dann realistisch, wenn die vorherigen Berechnungen der Einwohner auch im Ansatz stimmen würden. Nach offiziellen Angaben hat Warschau mit den Ukrainern knapp 2,2 Millionen Einwohner. Aber schon vor dem Krieg waren es auch schon 2,2 Millionen. Das konnten die Handybetreiber herausfinden, die durch das Geotrapping herausfinden können, wie viele Handys sich in Warschau befinden und wem sie gehören. Demnach konnte man damals schon sehen, dass sich damals schon ca. 200 Tausend Ukrainer in der Metropolregion aufhielten.
Ich glaube also, dass die Zahlen weitaus höher ausfallen, als es von den Verwaltungen angegeben wird.
Die Situation in Warschau ist zum Teil sehr kritisch, aber die Stadt und die Bevölkerung konnten die Flüchtlingswellen auffangen und die Situation meistern. Im Mai gab der Stadtpräsident von Warschau an, dass jeder dritte Ukrainer in Warschau mittlerweile eine Arbeitsstelle finden konnte. Problematisch sind allerdings die Kinder, für die es einfach nicht genügend Plätze gibt. Die meisten der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder.
Eine unglaubliche Entwicklung
Als ich 2008 zum ersten Mal in Warschau war, waren die ERASMUS-Studenten die womöglich einzigen Ausländer in der Stadt. Der Ausländeranteil lag nach offizieller Statistik unter 1 Prozent. Auch waren hier faktisch so gut wie keine Personen aus dem weitem oder nahem Ausland. Seitdem hat sich hier viel verändert.
Die Ukrainer sind nicht die einzigen Ausländer in Warschau. Es leben hier sehr Vietnamesen. Die ersten kamen im Rahmen der sozialistischen Austauschprogramme von Vietnam aber auch anderen Ostasiatischen und vor allem kommunistisch geprägten Staaten nach Polen. Nach 1990 gingen viele dieser Familien in den Westen Europas. Die Vietnamesen witterten hier jedoch ihre Chance des Lebens und blieben.
Außerdem sieht man in Warschau auffällig viele Inder und hört auch viel Spanisch und Italienisch. Man muss sich nur Mal die Free Touren auf Spanisch anschauen. Zum Teil sind das Gruppen von 20 oder gar 30 Personen Touristen.
Warschau hat den ersten Schritt getan. Es ist eine aufstrebende Metropole, die Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Über die Gründe müsste man einen gesonderten Beitrag schreiben. Aber auf einen Nenner gebracht: Es ist eine lebenswerte Stadt, wo man als junger und motivierter Mann oder Frau eine finanziell unabhängige Zukunft aufbauen oder beginnen kann.
Was mich besonders freut, ist die Tatsache, dass die Warschauer an dem keimenden Multikulturalismus gefallen gefundenhaben und die Aufbruchsstimmung förmlich genießen. Es tut der Sehle gut, dass so viele Menschen aus der ganzen Welt nach Warschau kommen wollen. In der Vergangenheit kamen auch Ausländer nach Warschau, aber das waren Einzelschicksale, wie es auch in meinem Fall war. Es ist schön, dass sie alle hier sind. Die Stadt ist wesentlich interessanter geworden.
Polens multikulturelle und multireligiöse Erbe
Das katholische und ethnisch homogene Polen, welches wir kennen, ist ein künstliches Konstrukt des Zweiten Weltkrieges. Nach der Ermordung von nahezu 95 Prozent der polnischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland sowie der erzwungenen Grenzverschiebung 1945 sowie der Massendeportationen der polnischen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten Polens durch die Sowjetunion entstand ein Land ohne nationale Minderheiten. Die deutschstämmige Bevölkerung wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg Etappenweise vertrieben. Spätestens ab 1968 führte die Kommunistische Partei Polens eine offene antijüdische Politik. Bis 1990 wurde das Land nicht nur wirtschaftlich runtergewirtschaftet, sondern auch gesellschaftlich verunstaltet. Das fehlende Vertrauen gegenüber Fremden war noch 2015 sichtbar. Mit einer gezielten Anti-Flüchtlingspolitik konnte die bis heute regierende Recht und Gerechtigkeit (PiS) viele und bedeutende Stimmen auf ihre Seite bringen. Erfreulich ist dahingehend das Bild Polens als gastfreundliche Gesellschaft, die es fertig bringt Millionen von Hilfsbedürftigen Ukrainern zu helfen. Es ist mir klar, dass das nicht so einfach ist, denn es gibt noch das Thema des Mauerbaus an der Grenze zu Weißrussland, aber auch die großen Gruppen der aufgenommenen Tschetschenen (1996) sowie Georgier (2008).
Dabei hat Polen entgegengesetzte Traditionen, die paradoxerweise als Paradebeispiel für das Funktionieren eines multinationalen Staates fungieren können. Von 1918 bis 1939 lebten im unabhängigen Polen über 3 Millionen Juden und nahezu 5 Millionen Ukrainern bei einer Bevölkerung von 34 Millionen. Des weiteren lebten hier Weißrussen, Litauer, Deutsche sowie polonisierte Tataren und Armenier. Die ethnischen Minderheiten machten 1939 nahezu 35 Prozent der Bevölkerung aus. Es war selbstverständlich kein harmonisches Verhältnis, aber es funktionierte. Dabei waren die Städte noch vielfältiger. In Warschau lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung bei 33 Prozent, 15 Prozent machten andere Minderheiten aus. In Warschau sprach nur jeder zweite Bewohner Polnisch.
Dieser Zustand war für die Polen der Zwischenkriegszeit ebenfalls keine außergewöhnlicher Zustand. Vor den drei polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795 war die Polnisch-Litauische Adelsrepublik ebefanlls ein multikulturelles und multireligiöses Land. Das politische Schwergewicht vom katholisch geprägten und dominierten Königreich Polen verschob sich ab dem 14. Jahrhundert vom Westen in den Osten Europas. Die dann gegründete Polnisch-Litauische Adelsrepublik war vor allem während der Jagiellonen-Könige Zufluchtsort für Juden und Protestanten aus ganz Europa. Das Königreich erstreckte sich von Baltikum bis zum Schwarzen Meer und beherbergte unzählige religiöse und kulturelle Gemeinschaften, die dem Schutz der Adelsrepublik unterstanden.

Es gibt genügend Vorbilder, von denen die Polen heute aus den Vollen schöpfen können. Die westeuropäischen Staaten müssen nicht zwingend als Vorbilder für die sich nun neu entwickelnde multikulturelle Gesellschaft Polens dienen. Vielleicht wäre es sogar falsch. Die Geschichte des westeuropäischen Multikulturalismus basiert nämlich auf ganz anderen Fundamenten, wie Kolonialismus, Gastarbeiterschaft und auch Wohlstand. Auch sind es ganz andere Minderheiten, die zum Beispiel nach Deutschland auswandern. Dahingehend muss Polen seinen eigenen Weg finden, den es schon mal in der Geschichte eingeschlagen hatte.
Das gleich gilt für Warschau.
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