Feuilleton

Wer darf eigentlich Warschauer sein?

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Die Warschauer Reinheitsutopie

Warschauer zu sein ist in Warschau nicht einfach. Es ist vor allem dann am schwierigsten, wenn der sich autonom ernannte Warschauer von autochthonen Warschauern nicht anerkannt wird. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Es kann zum Beispiel die „falsche“ Sprache sein, welcher sich der selbsternannte Warschauer beim Outen bedient. Das schwerwiegendste Kriterium, oder wie manche sagen würden, der schwerwiegendste Irrtum der Bewahrer der Warschauer Reinheitsutopie ist die Herkunft der Eltern und Großeltern. Kommen diese nicht aus Warschau, ist die Chance auf Anerkennung minimal. Es besteht jedoch die Möglichkeit dieses Dilemma zu umgehen. Der Antragsteller muss lediglich weltberühmt werden. Dabei reicht schon eine Prise des persönlichen Bezugs zu Warschau. Da passiert es auch schon mal, dass die autochthonen Warschauer jemand zum Warschauer ernannt haben, ohne es zu wissen oder gar zu wollen. Iga Swiatek zum Beispiel war vor ihrer tollen Karriere stets aus Raszyn, obwohl sie in Warschau geboren ist. Nachdem sie zur Nummer 1 im Frauentennis aufgestiegen war, war sie natürlich nur noch „das Warschauer Mädchen“. Andere Möglichkeiten der Umgehung dieser harten Auflagen sehe ich keine.

Die Einmachgläser

Diejenigen, die von außerhalb kommen und nichts weltveränderndes erreicht haben, werden zu sogenannten Einmachgläsern (sloiki) herabgestuft. Das Bild der Einmachgläser kommt daher, dass viele Eingereiste am Wochenende in ihre Heimatorte fahren und dort von den Eltern und Großeltern mit eingelegtem Obst und Gemüse oder gar vorgekochten Mahlzeiten beladen werden. In Warschau ist schließlich alles sehr teuer und durch den Smog vollgepumpt mit tödlichen Chemikalien. Doch die Einmachgläser machen sich nichts daraus und nutzen die Bezeichnung sogar zu ihrem Vorteil aus. Zahlreiche gastronomische Betriebe tragen den wundervollen Namen „sloiki“ und auch die Getränke erhält man schon vielerorts in einem Einmachglas.

Vom Aussterben bedroht

Dieses Ausschlussverfahren der Autochthonen führt früher oder später zum Aussterben der Warschauer. Das geht wie bei den Spartiaten durch ihre strenge Bürgerrechtsregelungen. Irgendwann waren sie so wenige, dass sie eines natürlichen Todes von der Erde schieden. Was blieb, war eine Stadt mit einer reichen und stolzen Geschichte voller Aufopferung und Kriegsheldentum. Die späteren Menschen waren nur noch Zufall.

Daher nehme ich mir mit einer gesunden Dosis Warschauer Selbstbewusstsein die Freiheit den Warschauern mit Argumenten ihrem natürlichen Tod entgegen zu wirken. Bei einer Live-Veranstaltung würden mit die Warschauer an dieser Stelle mit einem selbstsicheren Lächeln versichern, dass sie meiner Hilfe nicht bedürfen und gut alleine zurechtkommen. Aber hier liegen sie schon im Ansatz falsch, weil sie sich längst das Widerspruchsrecht in dieser Angelegenheit entzogen haben. Wann? So genau kann ich das im Allgemeinen nicht sagen und der Zeitpunkt muss individuell festgelegt werden. In meinem Fall war es aber an jenem Tag, als ich nach Warschau zog. Ich wurde damals nicht zu einem Warschauer. Das wäre viel zu einfach und stünde auch nicht im Verhältnis zum entzogenem Widerspruchsrecht. Es muss demnach andere Kriterien geben, die den Neuankömmlingen das nun entgegenstehende autonome Entscheidungsrecht über das Sein und Nicht-Sein zuweisen.

Die Essenz kommt vor der Existenz

Die meisten von uns sind nicht weltberühmt und haben auch nichts großartiges geschaffen. Unsere Eltern sind halt nun da geboren, wo sie geboren sind. Der Neuankömmling muss also an die Essenz heran und sich die Frage stellen, was es denn nun ist, was den Warschauer zum Warschauer macht. Der autochthone Warschauer wird diese Frage nicht immer beantworten können, aber das muss er auch nicht, weil die gesuchte Quintessenz in seinen Knochen steckt und auf sein ganzes Warschauer-Dasein ausstrahlt. Wir Neuankömmlinge müssen es also selber herausfinden. Um dieses zu erreichen, bedarf es einer steten Beobachtung der einheimischen Bevölkerung, der Geschichtskenntnis- und -interpretation, vor allem aber der Frage nach den in Betracht kommenden Kosten, die es zu erbringen gilt, falls es mal zum Schlimmsten kommt.

Analog dazu kann man das Mensch-Sein hinzuziehen. Wenn jemand in hundert Jahren auf dem Mars geboren wird, ist er dann noch Mensch oder schon ein Außerirdischer? Natürlich bleibt er Mensch, weil die Quintessenz der Menschen darin besteht menschlich zu sein. Das impliziert die Nächstenliebe, Altruismus, den Schutz der Schwachen und der stetige Versuch – bei Nichtvorliegen aller vorher genannten Eigenschaften – ein besseres Ich zu schaffen. Nur weil jemand nicht auf der Erde geboren ist, verliert er nicht die Eigenschaft des Mensch-Seins.

Jetzt werden einige entgegenhalten, dass es beim Mensch-Sein gar keine Entscheidung geben kann, denn jeder Mensch ist Mensch. Aber genauso ist es beim Warschauer-Dasein, man ist oder aber ist kein Warschauer. Der einzige Unterschied liegt lediglich darin, sich das Warschauer-Sein autonom abzusprechen. Beim Mensch-Sein gibt es diese Möglichkeit nicht.

Was ist nun der Kostenfaktor?

Der Kostenfaktor wird anhand des Gesamtbildes des Warschauer-Daseins bemessen, womit ich endlich zum Hauptpunkt dieser Ausarbeitung komme. Jedes Land, jede Stadt und jedes Individuum muss sich an seiner bisherigen Entwicklung und Geschichte messen lassen. Warschau ist dahingehend kein einfaches Pflaster. Die zahlreichen Aufstände, darunter der Jüdische Aufstand von 1943 und der Warschauer Aufstand von 1944, lassen jeden, der hier wohnt und lebt, zum Entschluss kommen, dass die Stadt eine sehr hohe Aufopferungsbereitschaft aufweist, aber auch kämpft, weil sie frei ist und sich der fremden Unter- und Erdrückung nicht hingeben wird. Weiterhin der wirtschaftliche und architektonische Aufschwung, welcher darauf schließen lässt, dass die Bevölkerung bereit ist, sein volles Dasein der Stadt zu widmen. Das Verhältnis zwischen der Aufopferungsbereitschaft und dem starken Willen des nach vorne Preschens bringt uns zur Unnachgiebigkeit. Das Denkmal im Stadtbezirk Wola „Für die Gefallenen Unbesiegten“ spricht das plastisch aus. Was mich an Warschau am meisten fasziniert sind jedoch andere drei Aspekte. Da sind der hohe Grad an historischem Multikulturalismus, der seit knapp 10 Jahren erneut aufblüht, die damit zusammenhängende Gastfreundlichkeit und Aufnahmebereitschaft, sowie der fast schon krankhafte Drang die Früchte der Zukunft in vollen Zügen zu genießen. Die Liste ist nicht vollständig und viele Charakterzüge eines Warschauers sind auch in anderen Städten der Welt auffindbar. Doch wie in der Musik oder in der Kochkunst, manche Elemente sind immer gegeben.

Willst Du also ein Warschauer sein, trägst Du die volle Verantwortung der Umsetzung dieser ungeschriebenen Normen. Frei sein bedeutet nämlich vor allem Verantwortung tragen.

Ob es jetzt einfacher wird ein Warschauer zu sein? Diese Frage gebe ich weiter, an die Autonomen, aber auch an die Autochthonen…

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Antoni Administrator
Europäer mit polnischem Herz und deutschem Hirn! Eigentümer des Touristikunternehmens Walking Poland Group, lizenzierter Stadtführer in Warschau, Fotograf, Jurist (1. Staatsexamen), Redakteur
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Antoni Administrator
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