Ab dem 1. Juni bekommen die Fußgänger die Möglichkeit den Zebrastreifen zu überqueren, ohne dabei beschimpft, angehupt oder gleich direkt überfahren zu werden. Zwar kann und wird all das weiterhin geschehen, aber immerhin haben sie nach 31 Jahren Freiheit endlich das Recht auf ihrer Seite und können sich wehren. Es kommt, was kommen musste: Der Vorrang für den Fußgänger und das noch VOR dem Zebrastreifen!
Inhalt
Danke, lieber Autofahrer, für deine Güte!
In einem anderen Beitrag habe ich eine Gebrauchsanleitung für das Überqueren der Zebrastreifen in Polen geschrieben. Anders als in den meisten Staaten Europas hatte der Fußgänger in diesem Lande keinen Vorrang an den Überwegen. Das bedeutete in der Praxis, dass man der Güte und Laune des Autofahrers ausgesetzt war. Deswegen sind die Fußgänger in Polen, vor allem auf dem Lande, oder wie man in Polen sagt, in der Provinz, so dankbar, wenn jemand anhält. Dankbar! In den 90ern war es so schlimm, dass man stets davon ausgehen konnte, dass wenn ein Autofahrer anhielt, es mit großer Wahrscheinlichkeit ein Auto mit deutschen Kennzeichen war.
Das Bewußtsein der polnischen Autofahrer, dass sie in Form eines tonnenschweren Gefährts eine wesentlich größere Gefahr in den Verkehr bringen, und deshalb auf ihnen eine entsprechend größere Verantwortung lastet, wächst von Jahr zu Jahr. Allerdings zu langsam! Allein 2019 kam es zu 7000 (!) gemeldeten Unfällen mit Fußgängerbeteiligung, das sind 20 Prozent aller Unfälle. Seit Jahren sinken die Zahlen, aber nicht wesentlich.
Die neuen Regelungen
Immerhin tut sich etwas und bei diesem Tempo bekommt der polnische Staat auch dieses Problem bis zum Ende dieses Jahrhunderts in den Griff.
Ab dem 1. Juni wird also endlich eingeführt, dass der Fußgängern den Vorrang schon bei Betreten des Zebrastreifens hat. Bisher hatte der Fußgängern nur dann Vorrang, wenn er sich schon auf dem Fußgängerüberweg befand. Zudem hat der Autofahrer die Geschwindigkeit zu drosseln, sobald er sich einem Zebrastreifen nähert. Es wird noch etwas Zeit vergehen, bis die Rechtspraxis bestimmt hat, was „bei Betreten“ genau bedeutet.
Diese Vorrangsregelung gilt nicht auf Schienenüberwegen.
Bisher hatte der Fußgängern nur dann Vorrang, wenn er sich schon auf dem Fußgängerüberweg befand.
Aber auch für die Fußgänger wurden Verbote eingeführt. Während der Überquerung eines Zebrastreifens darf der Fußgänger nicht telefonieren oder auf ein elektronisches Gerät schauen. Bisher galt diese Regelung nur bei der Überquerung von Straßen und Schienen. Fußgänger sind auch nicht heilig und verursachen ebenfalls zahlreiche Unfälle, die Menschenleben kosten. 2019 verursachten sie 1879 Unfälle, in denen 372 Menschen starben. Also, Kopf hoch!
Die Automobil-Berserker
Plötzlich verschwinden alle guten Manieren und es dominiert der tiefsitzende Frust und das polnische Freiheitsgefühl vermischt sich mit dem blutrünstigen Instinkt des Jagens auf die unwürdigen Fußgänger, Fahrradfahrer, Elektrotrettroller und ahnungslosen Touristen.
Die neuen Bestimmungen wurden von den Autofahrern sehr negativ aufgenommen. Man scherzt hierzulande, dass man jetzt vor dem Zebrastreifen stehen bleiben muss, wenn der Fußgänger das Haus verlässt. Einige meiner Leser werden meine Meinung über die polnischen Autofahrer kennen. Ich finde, dass in keinem anderen Land Europas schlechter Auto gefahren wird, vom Parkverhalten ganz zu schweigen. Ich wage sogar zu behaupten, dass das eine negative Charaktereigenschaft der ganzen Nation ist. Ein Pole, der ins Auto steigt, verwandelt sich in Sekunden in einen Automobil-Berserker! An der Türschwelle des Autos passieren skurrile Sachen. Plötzlich verschwinden alle guten Manieren und es dominiert der tiefsitzende Frust und das polnische Freiheitsgefühl vermischt sich mit dem blutrünstigen Instinkt des Jagens auf die unwürdigen Fußgänger, Fahrradfahrer, Elektrotrettroller und ahnungslosen Touristen. Lediglich vor dem Kinderwagen haben sie noch etwas Respekt und gehen tatsächlich vom Gas runter. Wer an dieser Stelle eine patriotische Verteidigungsrede für die Fahrkünste unter Heranziehung von Robert Kubica verkünden möchte, der kann ja gerne auch die jährlich nahezu 3000 Verkehrstoten und über 25 000 Verletzten hinzuziehen. Zu dumm, dass Tote Menschen keine Meinung haben.
Es herrscht in Polen ein moralisches Missverständnis im Hinblick darauf, wer auf wen achten soll. In den Köpfen herrscht weiterhin die Überzeugung, dass der Stärkere mehr Rechte hat, dass der Schwächere sich dem Stärkeren verbeugen muss, dass Fahrradfahrer und Fußgänger bei einem Zusammenprall mit einem Auto sterben werden und daher aufpassen sollen, wo sie lang laufen. Lediglich ein größerer Berserker kann den kleineren Berserker zum Rückzug zwingen. Die ethischen Regeln, die zu diesen falschen Moralvorstellungen führen, sind absolut und total veraltet.
Es bleibt also zu hoffen, dass die neuen Verkehrsregeln Fuß fassen und sich Autofahrer wie Fußgänger lächelnd gegenübertreten werden.
Weiterführende Links
Verkehrsregeln in Polen: www.bussgeldkataloge.de
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