Was wäre wenn…
Beim umherschlendern durch die Straßen von Warschau ist man selten allein. Ständig kommt jemand um die Ecke gekrochen, stellt sich direkt vor mein Kamerastativ oder lädt seine Kumpels ein und fängt auf dem Balkon um Mitternacht eine lautstarke Diskussion über Putin, Kaczynski, die Kommunisten oder die Juden an. Dabei sei angemerkt, dass jener Balkon fast wie eine Ambone wirkt und alle 1000 Nachbarn müssen sich den oft verstandeslosen Müll anhören. Warum das nicht so einfach ist die Polizei zu rufen, bleibt jetzt erstmal verborgen.
Man muss Warschau sehr tief in sein Herz einschließen, um sich hier Wohl zu fühlen. Die Stadt gehört nicht zu den einfachsten. Wenn man aber erst die Warschauer Bedienungsanleitung gelesen und verstanden hat, dann will man noch mehr. Warschau ist wie dieser Typ, den man durch einen Bekannten kennengelernt hat, der anfangs ziemlich „eigenartig“ war, und den man aber doch irgendwie interessant fand. Keiner sollte versuchen hier etwas zu verändern, weil es noch nichts zu verändern gibt. Man kann sich die Stadt wie einen abgeholzten Dschungel vorstellen. Wenn man diesen anschließend wild wuchern lässt, ahnt jeder was passieren wird. Alles ist hier im Kommen – was die Zukunft bringt weiß womöglich noch nicht mal der angeblich Allmächtige.
Die neuen Warschauer, jemand wie ich, werden früh feststellen, ob diese Stadt einen aufnehmen will oder ob doch noch weiter um die Warschauer-Staatsangehörigkeit gekämpft werden muss. Wenn es nicht klappt, dann packt man seine sieben Sachen und reist wieder ab. Kielce mit seiner Taschenmesser-Kultur, Radom mit seiner 20-prozentigen Arbeitslosigkeit oder Mecklenburg-Vorpommern mit einem Landtag, wo jeder vierte AfD-Abgeordneter ist, sind auch sicherlich schöne Alternativen.
Kommen wir nun zum Hauptthema! Was wäre, wenn die ganze Welt Warschau wäre? Wie würde es aussehen, wenn alle Menschen nicht Menschen, sondern Warschauer wären? Ich bin mir dabei gar nicht sicher, ob diese Welt besser oder schlechter wäre. Wenn alle auch Warschauer wären, dann würde sich ja keiner darüber wundern. Es wundert sich ja auch niemand darüber, dass er Mensch ist. Und Mensch ist schließlich jeder, egal ob gut oder böse, schwarz oder weiß, ob aus der Nord- oder Südhalbkugel. Bevor der Mensch jedoch zum Menschen wurde, war er ein (angeblich) ein Affe. Wenn wir also alle vom Menschen zum Warschauer werden würden, was würde die neue „Version“ so sonderbar machen? Lassen Sie uns dieser Frage etwas nachgehen…
Das Warschauer Tempo
Die Welt würde sich wahrscheinlich etwas schneller drehen. Das in Polen berühmte Warschauer Tempo kommt ursprünglich aus der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Damals musste man sich etwas beeilen, damit alle Rückkehrer möglichst bald in seine eigenen vier Wände einziehen konnten. So zogen die Bauarbeiter in unglaublich schnellem Tempo ganze Gebäude in die Höhe – und das mit den einfachsten Werkzeugen. Heute hat man den Begriff den neuen Zeiten angepasst. Schnell muss man sein um den Bus oder die Bahn zu bekommen. Die U-Bahn fährt morgens alles 3 bis 5 Minuten, sodass man einfach auf den nächsten Zug wartet. Doch das U-Bahnnetz hat die Form eines Kreuzes und gelangt bisweilen zwar an viele Plätze, doch bei weitem nicht zu den beruflich wichtigsten. Die Bus- und Straßenbahnfahrer wiederrum warten in wirklich selten auf jemanden.
Des weiteren sind die meisten „Warschauer“ in Büros angestellt. Der Dienstleistungssektor erwirtschaftet über 90 Prozent des Warschauer Bruttosozialproduktes. In Europa haben nur London und Frankfurt/Main einen höheren Wert. Die sogenannten „white collars“ sehen meistens sehr gestreßt aus, wenn sie vor dem Bürogebäude stehen und mit 3 Zügen die ganze Kippe wegziehen. Die Frage aller Fragen bleibt dabei sicherlich für immer unbeantwortet: Bin ich zu langsam oder will der Chef einfach zu viel von mir?
Das schnelle Tempo hat einen großen Vorteil. Sobald man die Stadt verlässt scheint alles plötzlich stehen geblieben zu sein. Hier stößt der „Warschauer“ auf seinen Vorgänger, den Menschen. Der Mensch wird weichen müssen oder er wird überrant.
Der stolze Gang
Die Affen waren angeblich die ersten, die Aufrecht gehen konnten. Doch meistens hielten sie sich „unten“ auf. Beim Zusammenstoß mit dem Menschen hatte er keine Chance. Der neue Herr der Welt hatte schlicht und einfach einen größeren Überblick, visuell wie intellektuell. Der Warschauer geht nun nicht nur gerade, sondern auch stolz. Dabei hat man das Gefühl, er gerader gehen will als die Naturgesetzte es zulassen. Warum führt er sich nur so auf, der „Warschauer“? Nun, die Antwort ist ganz ganz einfach – zumindest für den Warschauer. Er hat nämlich das Gefühl, dass er immer für das „richtige“ gekämpft und seine Unabhängigkeit und Freiheit niemandem außer sich selbst zu verdanken hat. Den sinnlosen und romantischen polnischen Tod hat der stärkste Vertreter der Polen zur Perfektion gebracht. Zwischen 1794 und 1989 haben so viele Aufstände in Warschau begonnen, dass es an ein Wunder grenzt, dass es hier überhaupt noch jemanden gibt, der natürlichen Todes von uns gegangen ist. Grundsätzlich wäre es interessant über diese Aufopferungsbereitschaft für höhere Werte eine Doktorarbeit zu schreiben. Die Materialien würden bei diesem Thema sicherlich nie ausgehen. Wenn ihr den Feiertag dieses „Stolz-Ganges“ live miterleben wollt, dann kommt am 01. August zur Quelle – zum „Rondo-Daszynskiego“. Um 17:00 Uhr an jedem 01. August bleibt die Stadt stehen und erinnert sich an den Tag, an dem eine Stadt der größten menschenverachtenden Maschinerie die Stirn geboten hat. Ob es sinnlos war, weiß man noch nicht. Sicher war es romantisch und noch sicherer Polnisch. Der Warschauer Aufstand von 1944 – hier fand der Warschauer Stolz seinen Meister.
Das Recht des Stärkeren
Es ist nicht so, dass es bisher nicht anders gewesen wäre. Der Sieger schreibt Geschichte und der Sieger ist nun mal der Stärkere in seiner brutalsten Form. Doch der Warschauer treibt es damit auf die Palme. Eine solche gibt es in Warschau tatsächlich, aber das ist ein anderes Thema. In Warschau hat der Stärkere grundsätzlich Recht. Irrelevant dabei ist der Grund seiner Überlegenheit. Es kann also passieren, dass eine Putzfrau Recht hat und das nur, weil sie glaubt, dass sie stärker ist. Sie muss also nicht zwangsläufig stärker sein.
Derjenige, der ein größeres Auto hat, hat dann immer Recht, wenn er einem kleineren Gefährt gegenübersteht. Das kleinere Gegenüber kann nach Warschauer Definition auch ein Mensch sein. Der Stärkere hat hier also nicht nur Recht, sondern auch mehr Rechte. Wo genau diese Sonderrechte herkommen, ist mir noch ein Rätsel. Ich werde euch wissen lassen, wenn dieses Geheimnis gelüftet wird.
Die Warschauer Welt hat eine klar definierte Rangliste – und damit es nicht zu einfach ist – jeder stellt seine eigene Rangliste auf. Ihr glaubt, dass das in einem Chaos endet? Vielleicht, aber nicht in Warschau. Wie gesagt – lest die Bedienungsanleitung von Anfang bis Ende.
Sieh zu wie du klar kommst
Hier wird auch niemand verschont. Seinen Platz in dieser „neuen“ Gesellschaft muss man sich erkämpfen. Es ist unmöglich nach Warschau zu ziehen und abzuwarten, dass man hier integriert wird. Man muss sich sehen lassen, die richtigen Kontakte knüpfen und vor allem aktiv sein. Das Warschauer Tempo lässt nämlich ungern auf sich warten. Wer es nicht schafft, der ist raus, Hier gibt es auch keine Generalprobe – es muss schnell gehen. Deshalb bleibt am Ende nur der übrig, der in dieser Gruppe seinen Platz verdient hat. Der Staat wird dir nicht helfen, dein Konkurrent sowieso nicht und die, die dir helfen könnten, haben keine Zeit. Wenn sie denn Zeit hätten, müssen sie ihre Position verteidigen. Es ist nicht einfach, aber wer sagt, dass es einfach sein würde? Das schöne ist, dass man hier nur von Quasi-Gewinnern umgeben ist. Nicht ein einziges Stadtviertel wird von der sogenannten Ghettoisierung heimgesucht. Überall ist es mal sicherer und mal gefährlicher, aber insgesamt ist die Stadt einheitlich unter der Kontrolle des „Guten“. Alle streben nach vorne, kein Stillstand, eine ununterbrochene Entwicklung mit sichtbaren Ergebnissen. Was bleibt auf der Strecke? Vor allem die Kultur, denn die kann sich grundsätzlich nicht so viel leisten. Derjenige, der sie haben will, hat entweder viel Geld oder äußerst niedrige Erhaltungskosten und die sind hier überall hoch.
Und das ist erst der Anfan
Wäre die Welt besser mit dem „Warschauer“ als neuer Herr über das Geschehen? Das könnt ihr selber entscheiden. Sicherlich wäre das Leben auf diesem Planeten anders – spannender allemal.
Es sind auch nicht alle Punkte, die mir auf Anhieb zum Thema „Warschauer“ einfallen. Ich habe ja noch etwas Zeit, um euch den wahren Charakter Warschaus und seiner Einwohner darzustellen. Mit Warschau ist es wie mit einer Fremdsprache – man lernt sie am besten vor Ort.
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