Der Küchenblog Happy Cow aus den USA führt eine Rangliste der vegetarier- wie veganerfreundlichsten Städte der Welt. Dass dort Städte wie New York, Tel Aviv oder London auftauchen, verwundert nicht. Aber Warschau in der Top-10? An siebter Stelle vor Städten wie Paris, Toronto und Prag? (Stand: November 2018). Bei einer so fettlastigen und schweren Küche wie der polnischen ist diese Position gar nicht so selbstverständlich. Seit der 2012 in Polen (und der Ukraine) organisierten Fussball-Europameisterschaft ist Warschau touristisch sichtbar geworden. Nun ist die polnische Hauptstadt auch kulinarisch Vorbild für andere. Wie kommt der Bruch mit der traditionellen polnischen Küche? Was verbirgt sich hinter dieser gastronomischen Revolution?
Inhalt
Von einem Extrem ins andere
Jedes Kind in Polen weiß, was es bedeutet bei Oma und Opa zu essen. Es beginnt mit einer Suppe, dann kommt die Hauptmahlzeit. Während die knusprig gebrateten oder gekochten Piroggen schnell verputzt werden, wartet im Kochtopf auch schon das Eisbein. Als Beilage junge Kartoffeln und Sauerkraut mit Speck. Schließlich sollen die Enkel groß und stark werden. Als Nachtisch idealerweise Käse- oder Apfelkuchen, die sogenannte Szarlotka. Schließlich ist Polen drittgrößter Äpfelproduzent der Welt hinter China und den USA und die Paradiesfrucht muss irgendwo hin, seitdem Russland Polens Äpfel nicht mehr haben will.
Zudem ist die polnische Gastfreundlichkeit weltweit bekannt, zumindest noch. Ein voller Tisch mit Schinken, Wurst und noch mehr Fleisch zeugt von Wohlstand trotz des eher ärmlich ausgestatteten Hauses.
Doch dieses Bild erfährt in letzter Zeit einen Bruch. Ausgehend von den polnischen Städten und vor allem aus Warschau. Seit zehn Jahren erleben sie ihre schönste Zeit, keine Arbeitslosen, Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt, Hort des polnischen Liberalismus und Ausgangspunkt der polnischen Kulturrevolution. Es geht in ein anderes Extremum über: Kuchen ohne Zucker, Kaffee nur mit glutenfreier Milch, besser noch Sojamilch, Fleisch ohne Fleisch und der Kebab nur mit Salat. Die neue polnische Mittelklasse in den „neuen“ polnischen Städten geht nun einen eigenen Weg, ohne Oma, ohne Fleisch oder zumindest mit weniger Fleisch, achtet auf die Zutaten, die Kalorien und die Herkunft. Fair Trade oder gar nicht! Das Entsetzen in Omas Gesichtsausdruck ist klar erkennbar: „Was habe ich nur falsch gemacht?“
Der Zeitgeist
Liebe Oma, Du hast nichts falsch gemacht! Während Du jedoch immer noch die beste Oma der Welt bist, bist du auch die gleiche Oma von damals. Allerdings ändern sich die Zeiten. Zwischen 1945 und 1990 verflog die Zeit etwas langsamer, seitdem zischt sie an uns allen, vor allem an den Älteren, vorbei wie ein Torpedo. Da bleibt kaum die Möglichkeit der Anpassung. Was sich noch in der „kleinen Eiszeit“ im 17. Jahrhundert als nützlich erweisen konnte, aber auch zwischen 1945 und 1990 nicht immer eine Selbstverständlichkeit war, muss nun an die Gepflogenheit der Moderne angepasst werden. Die Warteschlangen an der Fleischtheke sind zwar nicht verschwunden, doch liegt das an dem Überfluss und nicht an den kontrollierten Rationen. Zudem laufen die Kinder nicht mehr zehn Kilometer zur Schule und neben den mit Marmelade gefüllten „Paczki“ gibt es nun an jeder Ecke hunderte andere Süssigkeiten, die die Blicke der Kleinen anziehen. Bei all dem Überfluß schauen aber auch immer mehr Polen auf die Rückseite der Verpackungen, wollen kein Fleisch essen von Tieren, die nie das Tageslicht gesehen haben und sitzen zudem acht Stunden im Büro und legen manchmal nur zwei Kilometer zu Fuß pro Tag zurück. Da braucht man keine 2000 Kalorien pro Tag, da braucht man nicht so viel Fleisch, vor allem sollte man dann nicht so viel fetthaltige Nahrung zu sich nehmen.
Zerstörung polnischer Traditionen
Das eine Extremum wird nun durch ein anderes ersetzt. Das betrifft jedoch hauptsächlich nur die Städte. Schaut man in die detaillierte Beschreibung der Rangliste des Blogs HappyCow, sieht man, dass es in Warschau 47 veganische Restaurants in einem 5-Meilen-Radius gibt. Vor allem interessiert uns der Satz „all showcasing vegan versions of traditional Polish dishes such as pierogi (dumplings), golabki (cabbage rolls), and Schabowy (meat cutlets)“. Veganische Varianten von Piroggen, Golabki und der berühmte polnische Schabowy! Für Fleischfresser eine Profanierung und für die echten Patrioten die Zerstörung waschechter polnischer Traditionen.
Doch das Selbstbewußtsein in Polens Gesellschaft liegt aktuell in der Hand des ersten polnischen Bürgertums. Die Traditionen werden dabei nicht verloren gehen, sie werden vielmehr an das 21. Jahrhundert angepasst werden. Diejenigen, die sich dagegen wehren, haben schlicht Angst dabei leer auszugehen, nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal. Doch der Zeitgeist hat seine eigenen Regeln, ob es einem gefällt oder nicht.
Beitragsbild: Vegetarian von Michael Calore [CC BY-NC 2.0]
Ein sehr amüsanter Bericht!