Am 2. Juni 1979 um 10:07 Uhr landete in Warschau das Flugzeug mit Johannes Paul II. an Bord. Am Nachmittag fuhr das Papamobil triumphierend auf den Pilsudski-Platz, der damals Siegesplatz hieß. Einige Momente später, unter Freudentränen hunderttausender Polen, die laut jubelnd, schreiend und geladen mit Hoffnung auf ein besseres Morgen, wie in einer Trance auf den Papst schauten, sprach er die in Polen bis heute unvergesslichen Worte aus „Möge der Heilige Geist herabkommen und das Antlitz dieser Erde verändern“. Doch an jenem alles veränderten Tag passierte noch etwas anderes.

Inhalt
Der Warschauer Chaos
Sollte in nächster Zeit jemand nach Warschau kommen, der wird auf dem Pilsudski-Platz ein frei stehendes helles Kreuz sehen. Um das Kreuz herum wurde mit dunklen Steinen ein Quadrat markiert, welches die Sprechbühne des Papstes symbolisiert. Auch sind dort die oben genannten Worte eingraviert.
Der Pilsudski-Platz ist eines der interessantesten Plätze in Polen, ausgestattet mit unzähligen Denkmälern (u.a. auch das Denkmal für die Verstorbenen des Flugzeugabsturzes bei Smolensk oder dem Denkmal von Lech Kaczynski) und einem faszinierenden Ebenbild der Warschauer Architektur, welche viele Besucher als chaotisch beschreiben würden. Für mich ist nach meinem über zwanzig Jahre andauernden Aufenthalt in Deutschland dieses Chaos ein – zwar nicht immer, aber doch im Gesamtbild – Symbol für die außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit der Polen . Stellt man sich einfach mal in die Mitte des Platzes und dreht sich ein Mal um die eigene Achse, sieht man über 250 Jahre Architekturgeschichte und eine steinerne Erzählung über den Warschauer Charakter, vor allem über seine Widerstandsfähigkeit, seine Widerspenstigkeit und den ungeheuer starken Freiheitswillen, der dazu führte, dass man nie für die Freiheit, sondern der Freiheit wegen kämpfte.
Die Umdrehung zeigt uns: die Dreifaltigkeitskirche (Ende 18. Jhd.), die Zacheta-Gallerie (1860), die Ruinen des Sachsenpalastes und gegenwärtig das Grab des Unbekannten Soldaten (ab 1715), das Hotel Victoria (1976), das Europäische Hotel (1877), das Metropolitan von Norman Foster (2004), die Spitzen der Wolkenkratzer im Stadtteil Wola (2010 – 2020), den Wissenschafts- und Kulturpalast (1955) oder das Nationaltheater (1833 / 1965).
Dieser Platz ist trotz des unscheinbaren Auftretens das Herz der Stadt. Nur hier konnten die Worte des Papstes eine solche Kettenreaktion auslösen
Die Geburt der Solidarność
Aus Warschauer Perspektive wurde an jenem 2. Juni 1979 die Solidarność geboren. Sie hatte noch keine Form, keinen Anführer, keine Arbeitsweise und überhaupt, wussten die meisten Polen noch nichts über ihre Existenz. Selbst Lech Walesa wusste womöglich noch gar nicht, welchen Lauf die Dinge nehmen würden. All das nahm tatsächlich erst mit den Streikbewegungen im Sommer 1980 Gestalt an. Am 17. September 1980, zum 41. Jahrestag des Angriffs der Sowjetunion auf Polen, wurde die Gewerkschaft gegründet und hatte nach nur einem halben Jahr über 10 Millionen Mitglieder, ohne Internet, Facebook oder Instagram.
Diese Erfolgsgeschichte ist ohne dem Bild des Papstes auf dem Siegesplatz am 2. Juni 1979 undenkbar. Die Geschichte der Solidarność ist ohne des Besuchs des Papstes in Warschau schlicht unvollständig.
Wenn ihr, liebe Leser, auf dem Pilsudski-Platz seid, schaut auf das Kreuz und gedenkt der Solidarność der 80er Jahre, die dazu beigetragen hat, dass die Mauer in Berlin fiel, dass wir in Polen endlich einen Hamburger bei McDonald´s kaufen konnten oder dass wir bis zum März 2020 ohne Grenzkontrollen durch Europa reisen durften.
Ein Schatten ihrer selbst
Viele fragen mich während der Stadtführungen an dieser Stelle über die Solidarność heute. Und da habe ich nicht viel zu sagen. Sie ist ein Schatten ihrer selbst mit gerade mal 400 – 600 Tausend Mitgliedern. Im Prinzip kann man sagen, dass es DIE Solidarność nicht mehr gibt. Die Streitigkeiten in den eigenen Reihen sind nur die Spitze der Probleme der Gewerkschaft. In Polen sind auch nur knapp 10 Prozent der Angestellten und Arbeiter in Gewerkschaften organisiert. Und diese 10 Prozent vertreten auch nur diese kleine Minderheit. Es gibt keine Tarifverträge oder ähnliches. In Zeiten der Prosperity mag das gewollt sein. Bei einer Arbeitslosigkeit in Warschau, die vor der Corona-Zeit bei 1,5 Prozent lag, musste der Arbeitsgeber sich sehr ins Zeug nehmen, um eine gute Belegschaft einzustellen. Die aktuelle Lage und auch die Zukunft werden die polnische Arbeitswelt dahingehend zum umdenken bringen. Meinen Erfahrungsbericht über die Lage vieler Kleinunternehmer in Polen kann man hier nachlesen.
Kommentare