In Polen begann alles am 4. März, als das Krankenhaus in Zielona Gora (Grünberg) im Süden des Landes den ersten Coronavirus-Fall bestätigte. Seit ein paar Tagen ist Mieczyslaw Palka wieder zu Hause, gesund, ohne Virus. Seitdem wurde das öffentliche Leben auf den Kopf gestellt. Direkt im Anschluss folgte die Demontage des Berufslebens und zu guter Letzt die Einzäunung des Privatlebens auf 55 Quadratmetern. Heute ist der 23. März 2020. Als Stadtführer habe ich die Altstadt noch nie so lange nicht bewundern können. Als Blogger habe ich noch nie so viele Onlinegespräche führen müssen, um die notwendigen Informationen für meine Beiträge zu erhalten. Als Warschauer habe ich noch nie so wenig von der Stadt wie in den letzten zwei Wochen gesehen. Und das noch dazu vor allem lediglich vom Fahrzeug aus. #zostanwdomu – Bleib zu Hause, so lautet der beliebteste Hashtag in Polen. Da bin ich dann auch und erlebe jeden Tag einen Sonntag.
Wenn die Gedanken umherschweifen
Ich habe mir zur Aufgabe gesetzt meine Blumen umzutöpfen, sodass ich eine Aufgabe habe, die es gilt ordentlich zu erfüllen. Manchmal ertappt mich meine Freundin dabei, wie ich die Blumen und Pflanzen imaginär durch die Altstadt führe. Dabei läuft im Hintergrund der Fernseher mit den täglichen Corona-News. Mit den Gedanken bin ich bei meinen Freunden und Geschäftspartnern aus der Touristikbranche. Etliche Stadtführer arbeiten jetzt bei Amazon als Auslieferer oder Lagerarbeiter, einige auch als Uber-Eats-Fahrer, also Essenszulieferer. Keine leichten Jobs, vor allem wenn man vorher etwas ganz anderes gemacht hat. Man hört täglich von Schicksalsschlägen, die einen verstummen lassen.
Die Ausbreitung des Coronavirus in Polen ist bei seiner Entwicklung ein paar Wochen hinter derjenigen in Italien oder Deutschland. In gewißer Weise können wir hier vorausahnen, was auf uns zukommt. Rein theoretisch kann man sich besser auf die kommende Ansteckungswelle vorbereiten. Jedoch angesichts des fatalen Zustandes des polnischen Gesundheitssystems an sich ist mit großen Versorgungs- und Behandlungsproblemen zu rechnen. Niemand möchte in Polen krank werden. Jetzt erst recht nicht. Mögen die Engpässe an Krankenbetten und Respiratoren nocht nicht akut geworden sein, wird uns jetzt schon jeden Tag erzählt, dass der Staat nicht auf einen starken Anstieg der Epidemie vorbereitet ist. Doch das liegt noch in weiter Ferne, wobei Zeitangaben heutzutage ziemlich relativ geworden sind.
Wie war das noch mit dem Kapitalismus?
Ich habe ein Einzelunternehmen in der Tourismusbranche, die es extrem hart getroffen hat, weil der internationale Verkehr seit Wochen still liegt und keine Bewegung in Sicht ist. In Polen gibt es derzeit knapp 3 Millionen registrierte Einzelunternehmer. Bei einer Firmenneugründung bezahlt man sechs Monate keine Sozialabgaben sowie Steuern. Zwischen dem 7. und 30. Monat liegen die Abgaben weit unter den gesetzlich festgelegten 1431 PLN, also 310 EUR, die man erst nach 2,5 Jahren seiner Tätigkeit in voller Höhe überweisen muss. Der Steuersatz beträgt für die meisten Unternehmen 19 Prozent.
1431 PLN klingt jetzt nicht sonderlich viel. Doch für die meisten Einzelunternehmer in Polen ist das ein Haufen Geld. Ab Februar 2020 kann man bei niedrigen Einnahmen im Vorjahr den Abgabensatz verringern, aber das geht jetzt zu weit ins Detail. Viele Ermäßigungen sind zude von kurzer Dauer.
Was bietet der Staat diesen Einzelunternehmern an? Aktuell wird eine Aussetzung der Zahlung der Sozialabgaben angeboten – aber nur für drei Monate! Die Einnahmen müssen dafür im März um mindestens 50 Prozent im Vergleich zum Februar gefallen sein. Man kann sich vorstellen, dass diese Regelung auf sehr viel Kritik stößt. Warum wird dabei nur ein Monat als Maßstab genommen?
Dieses Beispiel zeigt, dass man hier nicht auf eine hohe Unterstützung hoffen darf. Sollte man auch nicht! Das Motto der Kindererziehung in diesem Land lautet „Der zweite ist der erste Verlierer“. Wenn man alsdann ins Berufsleben einsteigt, arbeitet es sich nur schwer mit anderen zusammen. Man hat „sowas“ nie gelernt. Zusätzlich ist das Vertrauen in staatliche Institutionen äußerst gering und daher vertraut man lieber nur sich selbst. In Zeiten der Prosperity der letzten Jahre und insgesamt auch in den letzten 30 Jahren (trotz der Krise von 2008-2009), mag das amerikanische Modell des liberalen Kapitalismus eine tolle Idee gewesen sein. Polen hat zudem nicht viele Erfahrungen mit Wirtschaftskrisen, die noch in den Köpfen der Polen tief dringstecken. Die Krise 2008-2009 hat man als einziges and der EU mit einem Wirtschaftswachstum überwinden können. Keiner wollte zu viele Abgaben leisten, vor allem für die Rentenabsicherung oder Arbeitslosenversicherung. Wofür denn auch? Und tatsächlich war und ist es nicht viel. Also können wir alle drauf verzichten.
Und jetzt? Jetzt fordert die Geschäftswelt milliardenschwere Staatshilfen. Und diese werden nicht kommen. Rette sich wer kann. Toll, dieses amerikanische Wirtschaftsmodell auf europäischem Boden!
Der Alltag im Warschauer Mordor
Wie sieht hier der Alltag aus? Ehrlich gesagt, ist das schwer zu sagen. Ich bin dabei auf die Aussagen der Fernsehredakteure und Radiokorrespondenten angewiesen, die mich dabei unterstützen an die nötigen Informationen zu kommen. Die Innenstadt habe ich seit längerem nicht gesehen, da ich natürlich den Kontakt mit der Außenwelt versuche zu minimieren. Welchen Grund könnte ich zudem haben, um jetzt zur womöglich ausgestorbenen Warschauer Altstadt zu fahren? Die Stadt ist jedoch merklich leerer. Meine Wohnung befindet sich mitten im Warschauer Mordor. So wird hier das zweitgrößte Büroviertel genannt. Hier arbeiten normalerweise mehr als 120 Tausend Angestellte, die ohne Anschluss an das U-Bahn-Netz zur Arbeit gelange müssen. Jeden Tag heißt es um seinen Platz in der Straßenbahn oder im Bus zu kämpfen, koste es was es wolle. Es waren so viele skurrile Geschichten von den „Bewohnern“ des Büroviertels zu hören, dass jemand sogar eine Facebook-Seite gründete, um all jene Geschichte festzuhalten. Mittlerweile gibt es auch eine Mordor-Wochenzeitung. Doch seit dem 16. März ist hier nichts los. Weder morgens, noch abends, weder Samstag noch in der Woche. Jeden Tag ist Sonntag, alle Restaurants, Cafés und Bistrós in der Gegend haben geschlossen, weil es niemanden mehr zu verpflegen gibt. Nehmen die Warschauer die Situation ernst? Anfangs ja, mit der Zeit werden sie jedoch immer gleichgültiger. Schließlich wurde Polen im Mittelalter von der Pest verschont. Bei OBI gibt es am Eingang über fünfzig Meter lange Schlangen, weil sich nur eine begrenzte Anzahl Kunden im Geschäft aufhalten darf. Der Stadtpräsident von Warschau Rafal Trzaskowski musste zudem die Ausnahme aufheben, die es erlaubte am Weichselboulevard in der Öffentlichkeit Alkohol zu sich zu nehmen, weil dort abends so viele Menschen verweilten, dass man meinen könnte, es sei ein Sonntag im Hochsommer. Bis dato war es der einzige Ort in der Stadt, wo man außerhalb der eigenen vier Wände ein Bier trinken durfte. Jetzt darf man es nirgends!
Es geht also weiter. Morgen sind meine Kakteen an der Reihe. Und dann muss ich mir eine neue Aufgabe suchen.
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