Leben in Warschau

Alltag in Warschau. Das Leben in der interessantesten Stadt Polens.

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Beitragsbild © wilth via flickr


Während meiner Stadtführungen in Warschau ist es äußerst schwierig den Tagesverlauf der Bewohner von Warschau zu zeigen. Wo arbeiten sie? Wo verbringen sie ihre Freizeit oder die Wochenendabende? Wieso haben die Warschauer in der Altstadt oder am Königsweg keine Hunde? Wenn man die Stadt zum ersten Mal entdeckt, aber auch nur knapp zwei Tage hier verbringen wird, dann möchte man die Antworten sehr schnell erhalten. Eine dreistündige Führung ist dafür natürlich nicht ausreichend. 

Leben vs. Realität

Es kommt hinzu, dass die Touristen durchschnittlich nur 1,7 Tage in Warschau verbringen und sich während dieser Zeit meistens im touristischen Bereich (→ zum Stadtplan) aufhalten. Es fehlt demzufolge der Blick auf diejenigen Gegenden, in denen die Warschauer zur Arbeit gehen, ihre Brötchen kaufen, nach ihrem Feierabend relaxen oder den Hund ausführen. So entsteht eine Realitätsverfremdung. Das, was der Tourist sieht und hört, interpretiert er als Alltag in Warschau und idealisiert zumeist das Gesamtbild der Stadt, weil es in den touristisch relevanten Ecken auch angenehmer und schöner ist.

Deswegen habe ich mich entschieden, diesen Beitrag zu verfassen. Ich möchte einen kleinen Einblick in den Alltag eines Warschauers gewähren. Ich bin mir bewusst, dass ich hiermit auch die Schwächen dieser tollen Stadt aufzeige. Auch ich habe die Stadt anfangs idealisiert, was mir geholfen hatte die folgenreichste Entscheidung in meinem Leben, also den Umzug nach Warschau, zu fällen. Richtig lieben gelernt habe ich die Stadt jedoch erst, als ich auch die Schwachstellen entdeckt habe. Das ist nämlich das, was die Städte so interessant macht, nämlich wie sie mit ihren architektonischen, gesellschaftlichen und politischen Baustellen zurechtkommen. 

Die Warschauer machen es mir nicht sonderlich leicht, denn auch sie halten sich im touristischen Bereich auf. Dort machen die noch morgens rücksichtlosen Autofahrer wesentlich öfter an Zebrastreifen halt, die Kelnner grüßen die Gäste schon beim Betreten des Lokals und die Angestellten spazieren ohne Eile im Park oder entlang des Königsweges und hinterlassen den Anschein Mitglied einer sehr besinnlichen und ruhigen Gesellschaft zu sein. Und nebenbei – JA, dieses Warschau existiert tatsächlich auch. Das sind die, die es geschafft haben, sich einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern und die schönen Seiten der Stadt genießen. 

Warschau ist eine der größten Städte Europas, entwickelt sich rasant und hat mittlerweile verstanden, dass unzufriedene Gäste nicht wiederkommen und niemandem das Lokal weiterempfehlen. Langsam aber sicher werfen die Polen das schwere Erbe des Kommunismus von sich, vor allem hier in Warschau. Daher wächst auch von Jahr zu Jahr die Anzahl derjenigen, die unsere tolle Stadt und dieses Land besuchen. Nun kommen wir aber zu den „interessanten“ Themen. 

Mordor in Warschau

Doch es gibt auch das andere Warschau. Dieses erlebt man auf dem Weg zur Arbeit und 8 Stunden später auf dem Heimweg. Während der rush hour ist die Quote derjenigen, die einen am Zebrastreifen höflich durchlassen, wesentlich geringer, der Stress steht den Leuten in Bussen und S-Bahnen ins Gesicht geschrieben und von Ruhe und Gelassenheit gibt es keine Spur. Das Paradebeispiel einer solchen Hetzjagd erlebt man seit Jahren in einem der zwei Bürozentren Warschaus im Stadtteil Mokotow (poln. Mokotów). Dort kam die Stadt mit dem Ausbau der infrastrutktur nicht hinterher. Nicht ohne Grund entstand im Laufe der Zeit die Bezeichnung Mordor an der Domanieswska-Straße. Wenn Sie dieses Warschau ebenfalls erleben möchten, dann empfehle ich Ihnen einen Spaziergang zur Domaniewska-Straße – natürlich morgens ab 7 Uhr.

Die Generation 65+

Dann gibt es aber noch die Generation 65+, die zu den größten Verlierern dieses Systemwechsels gehören.  Wieso kann man die Vertreter dieser Gruppe kaum oder nie auf den Promenaden und in den Einkaufsmalls sehen? Warschau ist morgens nach der rush hour wie ausgestorben, weil die Menschen alle in ihren Büros sitzen. Aber dann würden die älteren Damen und Herren doch die Gunst der Stunde nutzen und ihren Morgenkaffee auf der Krakowskie-Przedmiescie-Promenade genießen? Oder? Die Wahrheit ist jedoch sehr traurig und erschreckend zugleich. Diese Menschen können es sich schlicht nicht leisten. Stattdessen verbringen sie ihre freie Zeit (und davon haben sie ja zu Genüge) auf Basaren oder eben zu Hause.

Wenn Sie dieses Warschau also sehen und fühlen wollen (bisher hatte keiner meiner Gäste ein solches Bedürfnis), dann müssen Sie sich mit den Warschauern auf den Weg machen zur Arbeit oder auf den Basar.  

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Was bringt die Zukunft?

Diese Seite der Stadt ist auch deshalb so interessant, weil Sie in Warschau einen europäischen Newcomer dabei beobachten können, wie er sich von Grund auf neu definiert. In Warschau spricht man viel von der tragischen Vergangenheit und auch von der vielversprechenden Zukunft. Die Gegenwart ist allerdings ein weißes Blatt Papier., welches erst beschrieben werden muss. Eigentlich wissen wir wer wir sind und sind uns unserer Geschichte sehr bewußt. Doch das Wort eigentlich macht den großen Unterschied.

Antoni Administrator
Europäer mit polnischem Herz und deutschem Hirn! Eigentümer des Touristikunternehmens Walking Poland Group, lizenzierter Stadtführer in Warschau, Fotograf, Jurist (1. Staatsexamen), Redakteur
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Antoni Administrator
Europäer mit polnischem Herz und deutschem Hirn! Eigentümer des Touristikunternehmens Walking Poland Group, lizenzierter Stadtführer in Warschau, Fotograf, Jurist (1. Staatsexamen), Redakteur

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