Man liest es überall und schon seit geraumer Zeit: Polen hat die niedrigste Arbeitslosenquote in der Europäischen Union. Derzeit liegt der Wert gemäß Statista bei etwas über 3 Prozent. Und das ist auch gut so, denn ist man in Polen erstmal arbeitslos, ist man hier arm dran!
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Arbeitslosenhilfe in Polen
Um Arbeitslosenhilfe zu erhalten, muss man zahlreiche Voraussetzungen erfüllen. Es darf für den Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt keine geeignete Stelle geben, der er nachgehen könnte, und er muss vorab mindestens ein Jahr gearbeitet haben, um nur die wichtigsten zu nennen. Das Unterstützungsgeld wird nur für einen Zeitraum von 6 oder 12 Monaten ausgezahlt. Der kürzere Zeitraum gilt, wenn die Arbeitslosenquote im Verwaltungsbezirk, in welchem man wohnt (die Anmeldeadresse ist irrelevant), am 30. Juni des Jahres vor dem Jahr, in welchem man das Recht auf Arbeitslosenhilfe erworben hatte, nicht 150 Prozent der Arbeitslosenquote des Landes übersteigt. Wahnsinn oder? Ich weiß, was ihr fühlt, schließlich habt Ihr genauso einfach formulierte Lohnsteuerregelungen in Deutschland, nicht wahr?
Die Höhe des Arbeitslosengeldes hängt zudem noch davon ab, wie lange man vorher arbeitstätig war. Bei einem Arbeitspensum von bis zu 5 Jahren sind es 80 Prozent der Basisversorgung, zwischen 5 und 20 Jahren 100 Prozent und über 20 Jahre 120 Prozent.
Die Höhe der Auszahlung
Und jetzt kommen die nackten Zahlen für das Jahr 2022. In den ersten drei Monaten beträgt die Grundversorung 1240,80 PLN Brutto, danach verringert sich die Summe auf 974,40 PLN. Es tut fast schon weh diese Zahlen in Euro umzurechnen. Beim aktuellen Umrechnungskurs (Dezember 2022) sind es 263 EUR bzw. 206 EUR. Lasst euch diese Unsummen mal auf der Zunge zergehen. Jetzt kommen natürlich die Wirtschaftsprofis und sagen „Ja, aber dafür sind die Lebenshaltungskosten in Warschau und vor aallem in kleineren Städten wesentlich geringer“. Das sagen nur die, die noch nie einen lebensnahen Monat in einer polnischen Stadt verbringen mussten. In einem meiner Beiträge habe ich die Lebenshaltungskosten in Warschau zusammengerechnet. Und ohne zu übertreiben braucht man in der polnischen Hauptstadt in einem Singlehaushalt knapp 4000 PLN für ein würdevolles Leben. Lässt man die Würde weg, kann man die Summe auf 2500 PLN runterdrücken, sofern die Hemmschwelle nicht zu hoch angesetzt wird und man auch bereit ist auf einem Balkon zu übernachten (natürlich bin ich mir bewusst, dass es sich hier um krasse Ausnahmefälle handelt).
Diese 1200 PLN sind ein Witz. Das ist eine menschenverachtende Hilfe, die nichts mit der Europäischen Sozialcharta zu tun hat, geschweige mit der Information im Staatssender TVP, dass „die Deutschen von den hohen Löhnen der Polen irritiert seien“. Der am häufigsten ausgezahlte Lohn in Polen liegt bei 2379,66 PLN (2020) Das ist die Realität. Der Durchschnittslohn, der in Polen aktuell bei 5889 PLN (2021) liegt, wird nur anhand der Daten von Unternehmen berechnet, die mindestens 9 Personen einstellen.
Polen hat keinen Sozialstaatsgedanken
Ich kann mich noch gut an die Forderungen von Bogdan Grzybowski von der Gewerkschaft OPZZ im Februar 2019 erinnern das Arbeitslosengeld auf 1100 PLN anzuheben oder gemäß der Europäischen Sozialcharta auf mindestens 50 Prozent des bisherigen Lohnes anzuheben. Doch Polen hat den Abschnitt, der besagt, dass den Arbeitnehmern das Recht auf ein Arbeitsentgelt zuerkannt wird, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, ausgeschlossen (opt out). Das führte dazu, dass auch im Hinblick auf die soziale Absicherung keine Mindeststandards getroffen wurden und werden. Der Markt in Polen regelt sich selbst. Auch die Menschen wurden seit 1990 sich selbst überlassen. Alles sollte die unsichtbare Hand des freien Marktes regeln. Das bringt sehr viele Vorteile, aber auch einige Nachteile mit sich, was man im Pandemiejahr 2020 hautnah spüren konnte.
Doch zurück zur Forderung von Grzybowski. Unglaublich perfide war damals das Argument der Arbeitnehmervertretungen, dass bei einer solchen Anhebung des Arbeitslosengeldes kein Risiko bestünde, dass die Arbeitslosen keinen Job mehr suchen würden. Genau das sind die Typen, die noch nie einen Bus von innen gesehen haben. Ich bitte um Gnade. 1100 PLN oder wie seit September 2020 1200 PLN pro Monat? Da kann man sich gleich die Kugel geben, vorausgesetzt, man kann sich diese überhaupt leisten.
Einen Sozialstaatsgedanken muss man sich erarbeiten. Und hier tut sich die Gesellschaft wirklich schwer. Und nein, die Auszahlung von 500 PLN für jedes Kind hat nichts mit einem Sozialstaatsgedanken zu tun, sondern ist die moderne Variante der „politischen Bestechungswurst“. Das sind leere Transferzahlungen, die keinen Mehrwert für die Wirtschaft und Gesellschaft bieten. Immerhin gibt die jetzige Regierung etwas her, denn ihr Vorgänger und aktuelle Opposition konnte noch nicht mal das.
Politische Konsequenzen
Mir gefällt ein Witz besonders: Warum führt man in Polen den Euro nicht ein? Sonst erfahren alle, wie arm sie eigentlich sind.
Warum sollten „diese armen Schlucker“, wie sie von der Politelite genannt werden, eine liberale Partei wählen, die zwischen 2007 und 2015 für die finanziell schwächsten im Prinzip nichts getan hat? Für sie sind politische Erfolge wie die „grüne Insel“ von 2009 (Polen war während der Wirtschaftskrise 2008/2009 das einzige Land der EU, welches einen Wirtschaftswachstum verzeichnet hat) einen Furz wert. Wenn jemand 1800 PLN netto verdient und anschließend hört, wie schön und toll hier in Polen doch alles ist, der wählt einfach eine andere Partei. Das ist der Grund, warum es in Polen egal ist, wer was in der Politik sagt oder macht. Gewählt wird der, der sich um die Schwachen kümmert. Die politische Beurteilung der Qualität der Sozialpolitik ist dabei irrelevant. Gerichte? Verfassung? Abhöraffären? Wenn jemand in der Provinz lebt und seine Stromkosten nicht bezahlen kann, der fährt nicht in die Stadt zur Demo, weil er sich das Ticket nicht leisten kann. Alle wollten Demokratie? So sieht Demokratie in armen Ländern aus.
Wie gut es um eine Gesellschaft bestellt ist, bemisst man daran, wie gut oder schlecht es der ärmsten Bevölkerungsgruppe geht. Und um diese ist es hier wirklich sehr schlecht bestellt. Polen hat noch keine Probleme, die mit dem Erreichen des mittleren Einkommens einhergehen, weil wir das mittlere Einkommen noch gar nicht erreicht haben.
Das Paris des Ostens
Zum Schluß eine Beobachtung von William Coxe, einem englischen Reisenden und Historiker, der im Jahre 1784, elf Jahre vor der 3. Polnischen Teilung, in Warschau unterwegs war:
„Die Straßen sind breit, aber das Pflaster ist in einem schlechten Zustand; die Kirchen und öffentlichen Gebäude sind riesig und prachtvoll; die zahlreichen Paläste der Adligen sind von Herrlichkeit gekennzeichnet, doch die Mehrheit der Häuser, vor allem in den Vorstädten, das sind ganz schlichte hölzerne Buden, elendig, irgendwie zurechtgezimmert [Piotr Myslakowski, Warszawa Chopinow, s.12].“
So sah das Paris des Ostens aus.
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