Leben in WarschauWirtschaft

Die Arbeit liegt auf der Straße

banknote

Text auf dem Beitragsbild: Arbeit! Küchenhilfe. 18 Netto. Wöchentlich ausgezahlt!

Auf dem Weg zur nächsten Führung, welche wie so oft auf dem Königsschloßplatz begann, sah ich auf der grauen Oberfläche des Bürgersteiges etwas sehr eigenartiges. Ein Restaurantbetreiber sucht scheinbar sehr dringend eine Küchenhilfe. Daher hat er sich entschieden das Jobangebot mit bunter Kreide und in Schönschrift auf den Gehweg zu malen. Da jeder weiss, dass die Gehwege in Warschau überdimensional breit sind, kann man sich einen  Schritt in der polnischen Hauptstadt auch leisten. Der Text lautet: 

Arbeit! Küchenhilfe. 18 Netto. Wöchentlich ausgezahlt!

Jobangebot auf der Straße

Dieser Schritt zeigt, wie verzweifelt die Dienstleister in Warschau bei der Suche nach Angestellten sind. Es geht gar nicht mehr darum, gute Arbeitskräfte zu finden. In manchen Fällen kommt noch nicht mal jemand!

Arbeitslosenquote quasi bei Null

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© MW

Warschau hatte laut Warschauer Statistikamt am 31.12.2018 genau 1 777 972 Einwohner. Davon waren im Schnitt 1 079 419 Menschen eingestellt und 1,4 Prozent arbeitslos gemeldet. Man bedenke, dass in Warschau mittlerweile circa 150 000 Menschen aus dem Ausland in Warschau ihr neues Lebensglück suchen. Und die Stadt kann sich glücklich schätzen, dass es diese Menschen gibt. Es werden aktuell so viele Wolkenkratzer in Warschau gebaut, dass die Stadt es ohne Unterstützung von außen nicht schaffen wird dem Einstellungsdruck gerecht zu werden. Zwischen Januar und Juni 2019 wurden 9526 Wohnungen frei gegeben und nirgends ist die Rede davon, dass diese Entwicklung und der unfassbare Bauboom in naher Zukunft enden sollte.

Noch ein Vergleich am Rande: nominal sind 18 490 Menschen arbeitslos. Direkt hinter dem Bahnhof wird der Varso Tower gebaut. Es wird mit 310 Metern Höhe das höchste Gebäude der Europäischen Union sein. Das gesamte Projekt Varso Place wird 144 000 Quadratmeter Bürofläche auf den Markt bringen. Nur hier werden 16 000 Menschen zur Arbeit gehen. Und das ist nur eines von vielen weiteren Projekten.

Warum reisen Polen immer noch aus?

Wenn man erst diese Zahlen vor Augen hat, stellt sich ganz schnell die Frage, warum die Polen denn dann immer noch ausreisen und sich relativ gut bezahlte Jobs in Westeuropa suchen? Die Antwort hat zwei Väter.

Zum einen ist es nicht so, dass alle, die in der polnischen Provinz wohnen, gut genug ausgebildet sind, um in Warschau einen „Traumjob“ zu bekommen. In der Hauptstadt Polens werden meist mit Selbstverständnis Englischkenntnisse vorausgesetzt. Diese können viele nicht vorzeigen. Dass man subjektiv glaubt, man beherrsche eine Fremdsprache, bedeutet nicht, dass der Arbeitsmarkt das genauso sieht. Zudem gibt es in Polen viele Hochschulen, die Magistertitel verteilen dürfen. Doch die Studenten haben dort nur studiert, aber bestimmt keinen Hochschulabschluß erworben, der einen zuvor vernünftig auf den seriösen Arbeitsmarkt vorbereitet hatte.

Zum anderen gibt es da noch den Unterschied zwischen dem staatlichen und privaten Arbeitsmarkt. Für eine staatliche Institution zu arbeiten geht nicht mit guten Löhnen einher. Ein Lehrer bekommt am Anfang ca. 2 500 PLN brutto, eine Pflegekraft im Krankenhaus zum Teil sogar noch weniger. Unabhängig davon, wie hoch die Lebenshaltungskosten im einzelnen auch sein mögen, mit diesen Summen ist ein würdevolles Leben einfach nicht möglich. Doch vor zehn Jahren war der private Arbeitsmarkt gar nicht weit entfernt von diesen Gehaltsstufen. Heute sieht das jedoch ganz anders aus. Der Durchschnittslohn in Warschau beträgt derzeit 6418,62 PLN und wächst von Monat zu Monat. Der Durchschnittslohn in Polen liegt bei 5182,43 PLN (Stand: Juli 2019). Der private Sektor hat den staatlichen Sektor weit hinter sich gelassen.

Ins Ausland reisen also weiterhin die, die schlecht ausgebildet sind, und die, die in Polen nur im staatlichen Sektor eine Arbeitschance haben.

So sieht es aus, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die den Zweiten als den ersten Verlierer bezeichnet. Wer nicht gut genug ist, sucht das Weite. Die Lücken füllen Ukrainer, Litauer, Weissrussen, Georgier, Kasachen, Indier, Vietnamesen….. Nach Westen raus, im Osten rein!


Beitragsbild: © Mein Warschau

Antoni Administrator
Europäer mit polnischem Herz und deutschem Hirn! Eigentümer des Touristikunternehmens Walking Poland Group, lizenzierter Stadtführer in Warschau, Fotograf, Jurist (1. Staatsexamen), Redakteur
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Antoni Administrator
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