Aktualisiert: 9.4.2019
Die Reform wird unbemerkt durchgeführt
Bildungsministerin Anna Zalewska hat bei der Einführung der Bildungsreform 2017 stets beruhigend ergänzt, dass „die Eltern die Veränderungen nicht mal bemerken werden“. Sie scheint jedoch gar nicht bemerkt zu haben, dass die Eltern in Polen panisch nach freien Plätzen für Ihre Kinder suchen. Oft bekommen sie nur die lakonische Antwort „die Einschreibefrist ist schon im Dezember abgelaufen“. Die Reform sieht u.a. vor die Gymnasien (3 Schuljahre für Schüler zwischen dem 13-16 Lebensjahr) aufzulösen, welche bei der letzten Schulfreform von 1999 eingeführt wurden, nachdem man sie 1948 aufgelöst worden waren. Ab September 2019 wird es eine 8-jährige Grundschule geben mit anschließendem Besuch einer weiterführenden Schule (2-5 Jahre). Zwei Jahrgänge werden sich gleichzeitig in Lyzeen tummeln. Waren es sonst ca. 350 000 Schüler, müssen die Schulen dieses Jahr 726 000 Schüler unterbringen.
Es fehlt jedoch an Räumen, Lehrern und Geld. Die Eltern befürchten, dass ihre Kinder eine zufälligen Bildungsweg einschlagen werden. Um dem entgegenzusteuern, herrscht eine regelrechte Belagerung privater Lyzeen. Auf einen Platz fallen dort sogar 20 Schüler.
Landesweiter Lehrerstreikt
Hinzukommt der für April geplante landesweite Lehrerstreik. Die Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (ZNP) hat eine Abstimmung durchgeführt, ob die Lehrer am Arbeitskampf teilnehmen wollen. Das Ergebnis sollte vom Vorsitzenden der ZNP Slawomir Broniarz am 25. März verkündet werden. Bis heute gibt es noch keine offiziellen Ergebnisse und genauen Informationen. Begründet wird das durch die hohe Anteilnahme von Schulen, die nicht in der ZNP organisiert sind.
Im April finden jedoch auch die Prüfungen statt, die entscheiden in welche weiterführenden Schulen die Schüler gehen werden. Im Mai treten die Abiturienten zu ihren Prüfungen an.
Wenn das nicht schon genug wäre. Ebenfalls im Mai wird das Europäische Parlament gewählt. Im Oktober schließlich das polnische Parlament.
Aktualisierung vom 9.4.2019: Das Wahlergebnis war mehr als positiv. Mehr als 90 Prozent der Wähler haben sich für einen Streik ausgesprochen. Noch in der Woche vor dem 8. April wurde verhandelt. Die Gewerkschaften ZNP und auch die Solidarnosc haben ihre Forderungen runtergeschraubt. Nunmehr seien sie bereit eine Gehaltserhöhung von 30 Prozent anzunehmen. 15 Prozent ab Januar und 15 Prozent ab September. Die Regierung hat im Gegenzug insgesamt knapp 14 Prozent anzubieten.
Die Gespräche waren ein echtes Fiasko. Am 8. April haben die Lehrer den Arbeitskampf begonnen.
Der Kampf um die Statistiken
Es herrscht Ungewißheit darüber, wieviele Schulen und Lehrer tatsächlich am Lehrerstreik teilnehmen wollen. Die ZNP spricht davon, dass ca 80-85 Prozent aller Lehrer streiken wollen und werden. Hier muss man der ehemaligen Premierministerin Beata Szydlo Recht geben, dass diese Zahl nur relativ ist, handelt es sich doch nur um diejenigen Schulen, die in der ZNP gelistet sind.
Die Pressesprecherin der ZNP Magdalena Kaszulanic erwidert jedoch, dass 79 Prozent aller Bildungseinrichtungen, also nicht nur der in der ZNP, am Streik teilnehmen wollen. Hingegen befürworten 91,2 Prozent derjenigen Schulen, die an der Abstimmung beteiligt waren, das Vorgehen der Gewerkschaft. Niemand kann eine verläßliche Zahl angeben. Man wird also bis zum 8. April warten müssen. Die Realität wird es verifizieren.
In Polen gibt es aktuell ca. 700 000 Lehrer, wovon etwas mehr als 200 000 von der ZNP vertreten werden.
Aktualisierung vom 9.4.2019: Obwohl der Lehrerstreik am 8. April offiziell begonnen hat, ist immer noch unklar, wieviele Lehrer tatsächlich streiken. Die Gewerkschaften spricht weiterhin davon, dass 80 der Schulen in Polen streiken wollen, aber konkrete Zahlen legen sie nicht vor. Die Regierung bleibt immer noch bei ihren knapp 50 Prozent und garantiert auch die Durchführung der Prüfungen am 10. und 15. April. Im Mai werden die Abiturprüfungen geschrieben.
Was sagen die Polen dazu?
Von einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung kann nicht gesprochen werden. Oko.press hat im Februar das Marktforschungsunternehmen IPOS beauftragt eine Umfrage zu starten. Das Ergebnis zeigt einen Patt:
- 47 Prozent sind für den Streik
- 48 Prozent sind gegen den Streik
Die Spaltung der polnischen Gesellschaft ist auch hier klar erkennbar. Nur 18 Prozent der PiS-Wähler sind dafür und 79 Prozent sind dagegen. Die größte Zustimmung erhalten die Lehrer von den Wählern der Bürgerplattform (PO). 79 Prozent sind dafür und nur 20 Prozent dagegen.
Interessant ist dahingehend die Befürwortung junger Bürger zwischen 18-25. In dieser Gruppe sind 53 Prozent für den Arbeitskampf und 41 Prozent dagegen.
Unverschämt und chaotisch
Die politische Führung betont immer wieder, dass alle Lehrer von den Sozialprojekten der letzten drei Jahre schöpfen können. Die Lehrer bekommen doch auch 500 PLN Kindergeld. Vorausgesetzt sie haben Kinder. Das ist mit Abstand das lächerlichste, was ein Minister in dieser Situation von sich geben kann. An solche absurden Aussagen haben uns jedoch schon andere Regierungsmitglieder gewöhnt. Das Innenministerium begründete das Beibehalten des Vorrangs der Autofahrer damit, dass „die Autofahrer die neuen Regelungen sowieso nicht einhalten würden.“ Die polnische Bevölkerung scheint die durch die Regierung eingeführten oder nicht-eingeführten Spielregeln wohl einfach nicht zu schätzen. Alles geschieht doch zum Wohl des patriotischen Bürgers.
Die Regierung wird am 1. April die ersten Verhandlungen mit der Gewerkschaft führen. Es wurde schon vorab erläutert, dass die geforderten 1000 PLN Gehaltserhöhung sicherlich nicht akzeptiert werden. Es sei schlicht kein Geld mehr in der Staatskasse. Zudem sprechen Regierungsvertreter davon, dass dieser Arbeitskampf reine Politik im Wahljahr ist. Die ZNP sei der verlängerte Arm der Opposition. Damit ist eigentlich schon alles gesagt und genau diese Sichtweise wird die Verhandlungen bestimmen.
Zusätzlich gibt es noch rechtliche Probleme der Schulen, die nicht in der ZNP, aber in anderen Gewerkschaften organisiert sind. Die Gewerkschaft Solidarnosc hat ihren Schulen verboten in einen Arbeitskampf zu treten, der von anderen Gewerkschaften organisiert sind. Die Konsequenzen einer solchen Situation sind derweilen noch unklar.
Dieser seit drei Jahren (geplante) größte Streik in Polen zeigt eine unverschämte und chaotische Diskussion. Man erhält von allen Seiten widersprüchliche Informationen. Es liegt niemanden daran den Disput zu besänftigen. Große Unsicherheit beherrscht die ganze polnische Schulwelt. Schuldirektoren, Lehrer, Schüler und Politiker zeigen uns das Apogeum der Unfähigkeit der politischen wie gesellschaftlichen Führungseliten. Alles im doppelten Wahljahr. Alles gegen die Interessen des Staates und des Souveräns.
Beitragsbild: What makes You think we have a teacher in the family? on Tim Ellis [CC BY-NC 2.0]
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