Beitragsbild © Phil Dolby via flickr [CC BY 2.0]
Zwei Ereignisse in dieser Woche haben mich dazu angespornt diesen Artikel zu schreiben. Zunächst bin ich auf eine LGBT-Demonastration vor dem Kulturpalast in Warschau mit vielleicht Tausend Teilnehmern gestoßen. Dort sah ich auf einem Banner die Aufschrift „Mam dosc“ / „Ich habe es satt“.
Der zweite Impuls war ein Artikel in der Zeitschrift Newsweek Polska (36/2020 31.08.-06.09.20) in Form eines Gesprächs mit dem Jesuiten Krzysztof Madel. Der Titel klang vielversprechend „Warum die Kirche schweigt“.
Die polnische Gesellschaft befindet sich in einer Phase der gesellschaftlichen Umstrukturierung, die in einer sehr komplizierten und zum Teil unübersichtlichen Zeit passiert. Es scheint, dass die in den letzten dreißig Jahren unter den Teppich gekehrten Probleme nun mit doppelter Wucht ans Tageslicht kommen. Es hängt eine unruhige Stille in der Luft und sowohl die Demo auf dem Paradenplatz sowie auch das Gespräch mit dem Geistlichen sind aktuell Themen, die die ganze Energie der Gesellschaft binden. Doch es gibt noch weitere Baustellen. Und eine Sache haben alle Gruppen gemein: alle scheinen in diesem Land allmählich die Schnauze voll zu haben!
Ja klar, alles mal auf die Coronakrise schieben oder gar auf den polnischen Nationalcharakter. Meckereien und Unzufriedenheit sind ein ständiger Begleiter aller Gesellschaften und das wussten schon die antiken Herrscher. Damals konnte man noch mit Brot und Spielen die unruhigen Gemüter besänftigen. Daher sind das auch sicherlich keine rein polnischen Eigenschaften. Die Polen machen es nur manchmal etwas direkter. Doch sowohl die Coronakrise als auch der polnische Nationalcharakter verstärken den Frust und die Unfähigkeit einen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Und diesen haben wir bitter nötig!
Leute, wir haben ein Problem!
Zunächst der Demonstrant vor dem Kulturpalast. Das Gebäude war ein Geschenk der Regierung der Sowjetunion an das Volk der Volksrepublik Polen. Das Gebäude symbolisiert ein menschenverachtendes, brutales, terroristisches, absurdes, utopisches, von Blut durchtränktes und von verrückten Versagern geführtes System, welches der Menschheit, aber vor allem den eigenen Bürgern ungeheures Leid angetan hat. Den Älteren unter uns mag man also verzeihen, wenn sie dieses ungewollte Geschenk abgrundtief hassen und es am liebsten mit eigenen Händen niederreißen würden. Doch es ist halt Teil unserer Geschichte und wir müssen lernen, mit ihr umzugehen und vor allem haben wir heute alle die Pflicht sie zu kennen. Abreißen ist insofern die schlechteste Wahl. Dort treffe ich nun auf eine LGBT-Demonastration auf dem Paradenplatz. Kommunismus ist vergessen und passé. Die Zeit geht weiter und die Gesellschaft: ja diese hat zeitgemäße Probleme. Auf dem Banner nun sah ich die Aufschrift „Mam dosc“ / „Ich habe es satt“. Bisher sah ich die Demos mit Regenbogenflaggen als etwas durchaus positives, Aus meiner Perspektive wollten diese Personen ihre Anwesenheit zeigen, ihre Rechte der Teilnahme ausüben. Irgendwie hatte ich stets Miniversionen der Love Parades vor Augen, wo die Menschen fröhlich und lachend einfach sie selbst sein konnten. Ich habe diesen Menschen mit dem Banner angesprochen und ihn gefragt, was sich hinter seinem Banner verbrigt. Er sagte, er habe die Schnauze voll sich ständig als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Er ergänzte, dass er dreißig Jahre alt ist, sich vor zehn Jahren geoutet hatte, einen Freund hat und alles ging seinen Weg. Und auf einmal gibt es so eine mediale Hetzjagd auf die Regenbogenflagge und die Nationalisten erfahren für ihre widerlichen und unwürdigen Attacken freie Hand aus dem politischen Lager. Das hat mich voll getroffen! Meine naiven Vorstellungen haben einen Riss erfahren. Lange ist es her, dass ich dem polnischen Staat Vorwürfe gemacht habe, weil die Würde des Menschen angekratzt wurde. Ich konnte förmlich spüren, wieviel Wut er in sich trug. Von Love-Parade-Feeling war in diesem Moment nicht mehr viel übrig. Es ging hier um wesentlich mehr! Ich würde sogar behaupten, dass es diesem Mann um so viel ging, dass er alles dafür aufopfern würde.
Wenn Menschen sich für einen solchen Schritt entscheiden, der für die einen eine Provkation und für die anderen eine Manifestation ist, dann ist es vor allem ein Zeichen dafür, dass es in der Gesellschaft ein riesengroßes Problem gibt!
Jesus im Regenbogenmantel
Das Gespräch mit dem Jesuiten Krzysztof Madel war sehr erstaunlich. Sehr selten hört oder liest man ehrliche Worte von Geistlichen über den mentalen und geistlichen Zustand der polnischen katholischen Kirche. Schon sein erster Satz fesselte mich „Die Kirche erlebt eine weitere Etappe der Krise und der Findung ihrer Identität. In einem überwiegenden Teil hat sie sich nicht an die Zeit der Freiheit gewöhnt. Die Entscheidungen werden von Personen getroffen, deren Denkweise in einer vergangenen Epoche geformt wurde. Sie haben sich in der modernen Welt nicht zurechtgefunden, sie leben in einer eigene Welt (…).“
Vor einiger Zeit wurde die Jesusfigur auf dem Königsweg in Warschau mit einer Regenbogenflagge umhült. Man kann sich natürlich vorstellen, welch Aufschrei es auf der rechten Seite gab. Nun waren die Reaktionen dort vielfältiger Natur. Ich war etwas erschrocken, als vor dem Haupteingang der Kirche sogenannte Ritter Jesu standen und „kontrollierten“, wer rein kommt. Krzysztof Madel wurde gefragt was er in dieser Situation täte „Ich täte alles, damit diese Flagge zumindest für ein paar Tage auf der Jesusfigur hängen bleibt und am Sonntag, wenn die meisten Gläubigen zur Messe erscheinen, würde ich das kommentieren“. Das wäre nach Madel ein Zeichen der Stärke. Alles andere ist ein Zeichen der Schwäche und Verzweiflung, vergleichbar mit den brutalen Reaktionen Lukaszenkas in Weißrussland oder auch mit der Ignoranz von Jaroslaw Kaczynski, der die Politik dafür ausnutzt, um endlich wertgeschützt zu werden. Auch hier muss klar gesagt werden: wenn Institutionen sich für einen solchen Schritt entscheiden, ihre Machtstellung auch mit Gewalt zu erhalten, dann ist es vor allem ein Zeichen dafür, dass es in der Gesellschaft ein riesengroßes Problem gibt!
Und die Kirche hat große Vorbilder: zum Beispiel die polnische katholische Kirche im 15. und 16. Jahrhundert, aber auch die Kirche unter Kardinal Stefan Wyszynski.
„Entweder oder“ ist keine Lösung
Der gesellschaftliche Konflikt in Polen ist meines Erachtens schwerwiegender Natur als die politische Krise und beide würde ich strikt voneinander trennen. Allein deswegen, weil die Politik und vor allem die Politiker kein Maßstab, kein Vorbild und keinen Einfluß auf das aktuelle Geschehen haben. Die aktuelle politische Lage kann sinnbildlich als die Solidarnosc auf dem Sterbebett beschrieben werden.
„Entweder oder“ ist ein Ansatz, den die sowjetischen Führer konsequent durchgezogen und so auf über 20 Millionen Quadratkilometern so viel Blut vergossen haben, dass dort nicht mal das Getreide wachsen wollte. Sogar die mittelaterlichen Könige hatten als Motto „Wenn Gott mit uns, wer gegen uns?“ Es gab also noch eine Alternative.
Doch wir brauchen alle Gruppen der Gesellschaft. Und ob eine Gesellschaft mit sich im Einklang lebt, kann nur daran gemessen werden, wie die kleinsten Minderheiten behandelt werden und welche Rechte ihnen zustehen. Nur eine Gesellschaft, die in Eintracht und im Frieden mit sich selbst lebt, kann sich entfalten. Und Polen ist ein Land, welches genügend Platz für alle bietet. Doch dreißig Jahre sind, wie es scheint, nicht genügend Zeit, um eine bürgerliche Gesellschaft zu schaffen. Sogar die Mittelklasse in Polen ist gerade mal im Entstehungsprozess.
Im Stich gelassen
Die katholische Kirche in Polen ist notwendig, damit mit den Gläubigen nicht dasselbe passiert, was mit den Arbeitern in den 90ern passiert ist. Sie wurden im Stich gelassen und bisher hat sich niemand so wirklich um sie bemüht. Die Konsequenz davon war 2015 der Wahlsieg der bis heute allein regierenden Koalition der rechts-konservative Parteien (PiS ist die größte). Diese verteilt zwar staatliche Gelder, um dem arbeitenden Volk das Leid etwas erträglicher zu machen. Eine echte Hilfe ist das jedoch nicht. Dass es um die Arbeiter und Angestellten relativ schlecht bestellt ist, sieht man vor allem daran, dass die Statistiken über den wirtschaftlichen Zustand des Landes nur diejenigen Firmen einbezieht, die mindestens 9 Personen eingestellen. Eine große Herrschar von Menschen, die bis 1990 zumindest ein gewißes Maß an sozialem Leben hatte, stand plötzlich da wie ein im Regen zurückgelassener Hund. Das war ein Fehler! Diese Leute hatten 2015 schließlich auch die Schnauze voll! Und die Kirche ist auf dem Lande und vor allem in den kleinsten Dörfern das einzige soziale Bindeglied. Wenn diese Bänder reißen, wird aus Frust Radikalität. Die regierende PiS ist rechtskonservativ, aber nicht rechts-radikal oder nationalistisch im westeuropäischen Sinne. Sie ging jedoch eine Mesalliance mit den „Rechten“ ein. Das war ein Fehler.
Die Abhängigkeiten verstehen
Das Paradoxe an der zum Teil menschenunwürdigen Einstellung gegenüber schlechter gestellten trifft in Wirklichkeit uns alle. Die Arbeiterwelt in Polen hat in den 80ern die größte Gewerkschaft geschaffen, die die Welt je gesehen hat. Heute sind kaum zehn Prozent der Menschen in Gewerkschaften organisiert. Als ich in eine ausländischen Konzern gearbeitet hatte, konnten in der Warschauer Filiale keine Ratswahlen durchgeführt werden, weil niemand der 74 Angestellten Gewerkschaftsmitglied war. Niemand hatte Interesse daran.
Die meisten sind überzeugt, dass sie sich persönlich besser um ihre Rechte und Gehaltserhöhungen kümmern können. Es ist nicht ungewöhnlich, dass zehn Personen in einem großen Raum nebeneinander sitzen, dieselbe Arbeit verrichten, jedoch unterschiedliche Gehälter bekommen.
Die Konsequenz ist eine ungeheure Negativbilanz: würden die Angestellten und Arbeiter zwischen 1990 und 2020 Gehalterhöhungen entsprechend des Wirtschaftswachstums und der Produktivität erhalten, dann müssten die Löhne heute um 30 Prozent höher sein.
Das ist nur die Spitze des Eisbergs
Der Kampf wird auf die linksliberalen Regenbogensympathisanten auf der einen und auf die rechts-nationalen Faschisten auf der anderen Seite dezimiert. Doch das ist nur der Konflikt, der medial aufgepauscht wird. Lehrer, Ärzte und Krankenpfleger bekomen zum Teil weniger als als Sachbearbeiter in der Bürowelt, die Arbeiterwelt kleiner Firmen und Unternehmen fühlt sich im Stich gelassen, die LGBT-Personen fühlen sich schickaniert, die Kirche fühlt sich nicht mehr ernst genommen, die Rentner vegetieren vor sich hin und über-leben (von „leben“ ist hier keine Spur), die Studenten nehmen Professoren nicht mehr wahr und der Staat ist noch nicht mal in der Lage einen gehbehinderten Menschen soweit zu helfen, dass er nicht vor der Heilig-Kreuz-Kirche um Groschen betteln muss, wo derweilen zehn Meter weiter rechtsnationalisten für ein weißes Polen kämpfen, Gläubige Katholiken sich gezwungen fühlen ihre Kirche auch mit Gewalt vor der LGBT-Ideologie zu verteidigen und die LGBT-Personen ausgerechnet Jesus Christus einen Regenbogenmantel schenken wollen.
Doch eines haben sie alle gemeinsam: sie haben die Schnauze voll und es wird Zeit, dass sich alle Konfliktparteien besinnen. Denn eines hätte man vorausahnen könnnen. In Freiheit zu leben ist wesentlich schwieriger als sich gemeinsam gegen einen und denselben Feind zu stellen!
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