Auf einer Vorlesung im Museum der Geschichte der Polnischen Juden POLIN stellte der Autor Zvi Eckstein die wichtigsten Punkte aus seinem Buch The chosen few vor. Warum beschäftigten sich so wenige Juden mit der Landwirtschaft?
Inhalt
Vorlesung und Buchvorstellung
In Warschau fand nach langer Pause mal wieder eine sehr besondere Vorlesung statt. Und das hat drei Gründe:
- Die Vorlesung hielt Zvi Eckstein, ein Professor aus Israel, dessen Großvater aus Warschau kam – genauer gesagt aus dem Stadteil Praga. Nebenbei gesagt: 70 Prozent der Juden auf der Welt haben polnische Vorfahren!
- Die Vorlesung fand im Museum der Geschichte der Polnischen Juden statt. Dieses Museum hat 2016 den Europäischen Museumspreis (EMYA) gewonnen!
- Die Vorlesung wurde auf Englisch gehalten. Natürlich wurde das Gesprochene ins Polnische übersetzt!
Das Thema lautete: Why were so few Jewish farmers? – The chosen few – (Deutsch: Warum waren so wenige Juden Bauern? – Die wenigen Auserwählten – )
Die Vorlesung war so etwas wie eine Buchvorstellung mit anschließender Diskussionsmöglichkeit.
Der Grund für diesen Beitrag
Zum einen: Dieser Beitrag soll Ihnen zeigen, dass in Warschau mehr los ist als man glaubt. Jeden Tag gibt es Vorlesungen, kostenlose Abendpaziergänge mit lizenzierten Stadtführern, Vorträge und Diskussionrunden. Statistisch gesehen arbeiten wir in Europa am meisten*, aber es bleiben trotzdem noch einige Stunden übrig. Die meisten sind selbstverständlich auf Polnisch. Dennoch – wenn Sie Warschau und Polen besser kennenlernen wollen, dann lassen Sie sich von mir auf solche ereignisreichen Abende einladen. Wenn Sie keine finden können, brauchen Sie mir nur eine Nachricht schreiben. Ich werde für Sie nachschauen.
*was, wie es scheint, keinen Einfluß hat auf die Gehälter
Zum anderen: Nach der Vorlesung und einer kleinen Frage meinerseits habe ich etwas sehr interessantes erfahren. Dieses Gefühl erlebt man nicht oft, weshalb ich es hier mit Ihnen teilen will.
Das Buch

Zvi Eckstein hat in 75 Minuten sehr deutlich und präzise aufgezeigt, welchen Einfluß die Bildung auf die Geschichte der Juden weltweit hatte und deren Lebensweg formte. Obwohl er Wirtschaftswissenschaftler und Arbeitsmarktforscher ist, könnte man glauben, dass er ein Quereinsteiger sei. Mit dieser Vorlesung hat er bewiesen, dass dem nicht so ist.
Bewundernswet ist, dass wir hier von einer Erzählung über die Periode von 70 n.Chr. bis 1492 sprechen. Ein weiteres Band soll die Zeit bis zum 2. Weltkrieg abdecken. Da im 16. Jahrhundert über 70% aller Juden im Königreich Polen lebten, war es für Zvi Eckstein selbstverständlich sich in diesen Tagen nach Polen zu begeben, um weiteres Material zu sammeln.
Bisher wurde das Buch in folgende Sprachen übersetzt: Italienisch, Hebräisch, Spanisch, Vietnamesisch, Polnisch, Chinesisch und Französisch. Es bleibt abzuwarten, wann auch eine deutsche Übersetzung folgt. Sie müssen also zunächst auf die englische Version zurückgreifen – oder Sie versuchen es mal mit Polnisch.
2012 hat das Buch den National Jewish Book Award gewonnen.
Die Vorlesung – eine Kurzübersicht
Obwohl ich hier nur einen Überblick verfassen wollte, ist doch mehr daraus geworden, als mir Lieb war. Bei einem solch spannenden Thema ging es jedoch nicht anders.
Die Zerstörung des Tempels und die Führerschaft der Pharisäer
Die erste erstaunliche Information kam direkt zu Anfang der Vorlesung. Zvi Eckstein zeigte uns, wieviele Juden es weltweit gab.
- Im Jahre 60 n. Chr. lebten weltweit ca. 5,5 Millionen Juden, 650 n. Chr. nur noch knapp 1,2 Millionen, 1170 n. Chr. 1,5 Millionen und 1492 knapp 1 Million. Diese Zahlen lassen sich geschichtswissenschaftlich erklären und diese Erklärung beinhaltet zugleich die Antwort auf die Frage aller Fragen – warum gab es keine jüdischen Bauern?
Zunächst eine Klarstellung – es gab sie noch im Jahre 60 n. Chr. Damals lebten auf der Welt 5,5 Millionen Juden. Sie hatten einen König und einen riesengroßen Tempel, alles unterstand jedoch den römischen Herren. Die meisten Juden waren in dieser Zeit einfache Bauern. 70 n. Chr. wurde Jerusalem geplündert, der Tempel zerstört und die Könige abgesetzt. Ab nun waren die Juden ein Volk ohne eigenem Land. Bis zum Ende des 1. Jahrhunderts folgten weitere Aufstände, bei denen insgesamt ca. 2 Millionen ums Leben kamen. Nach der Zerstörung des Tempels entwickelten sich die Pharisäer zur treibenden Kraft im Welt-Judentum, in welchem der Rabbi die Führungsrolle innehatte. Sie waren, im Unterschied zu der Zeit vor der Zerstörung, die einzige bedeutende jüdische Strömung, was zu einer Kulturrevolution im Judentum führte.
Das Motto der Pharisäer lässt sich mit einem kurzen Satz definieren: Jude sein bedeutet Lesen und Schreiben lernen – und genau das stellten die Rabbis auf der Prioritätenliste nach ganz oben. Da Bildung sehr teuer und zeitaufwändig war und die Masse der Bauern weder das eine noch das andere hatte, kehrte sie dem Judentum den Rücken und konvertierten zum „Neuen Judentum“ (lies Christentum). Übrig blieben die wohlhabenden Juden, die ihre Kinder gemäß der wichtigsten Regel der Pharisäer in die Schulen schickten und Synagogen bauten, in welchen täglich gepaukt wurde. Und das sollte die nächsten Jahrhunderte unverändert bleiben.
Von den knapp 3 Millionen Juden im 2. Jahrhundert blieben aus diesem Grund bis 650 n. Chr. nur noch 1,2 Millionen übrig – die hatten es jedoch in sich.
Entgegen der allgemeinen Überzeugung
- Um es klar zu sagen: die Juden wurden nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. nicht aus ihrem Land vertrieben. Viele Menschen glauben, dass dieses Ereignis die jüdische Diaspora einleitet. Jene kam jedoch wesentlich später.
Die Expansion des Islam
Die Zahl der Juden stieg bis 1170 auf ca. 1,5 Millionen an. In dieser Zeit war Bagdad für die Juden das Epizentrum ihrer intelektuellen wie händlerischen Tätigkeit. Dort lebten knapp 10 Prozent aller Juden auf der Welt. In späteren Jahrhunderten sollte Warschau eine ähnliche Positionen einnehmen. Die Juden fühlten sich im islamischen Imperium sehr wohl und konnten Dank ihrer außergewöhnlichen schriftstellerischen und literarischen Fähigkeiten das tun, was sie am besten konnten: Handel treiben. Von den Juden-Bauern war keine Spur mehr.
Entgegen der allgemeinen Überzeugung
- Die Moslems habe die Juden nach der Eroberung keinesfalls vertrieben oder sie gezwungen Moslems zu werden. Ganz im Gegenteil – die Juden bauten in der islamischen Ära viele Synagogen (weil sie es sich leisten konnten) und konnten sich in Ruhe vermehren. Die urbane Gesellschaftsstruktur bis zum Einfall der Mongolen war nun zu ihrem natürlichen Lebensraum geworden.
Die Große Migration
Im 9. Jahrhundert begann eine FREIWILLIGE Migrationswelle nach Westeuropa. Niemand hat die Juden vertrieben. Sie suchten schlicht neue Absatzmärkte für ihre Waren. Da in den kleinen Bauerngesellschaften Europas nicht viele Händler nötig waren, siedelten sich die Juden nur in kleinen Gruppen an. Anschließend gründeten sie ein Europaweites Netzwerk, denn nur so konnte man den Handel über weite Strecken bewältigen. Diese Wanderungswelle nennen die Juden ihr „Goldenes Zeitalter“. Dennoch – Anfang des 12. Jahrhunderts lebten 70 Prozent der Juden auf der Welt immer noch im Nahen Osten in Mesopotamien.
Entgegen der allgemeinen Überzeugung
- Es ist nirgendwo die Rede von Vertreibung. Will man Handel treiben, muss man neue Absatzmärkte suchen. Davon kann der Deutsche Export ein Lied singen. Fehlen Absatzmärkte, gerät das ganze System ins Schwanken.
Der Mongolenschock
Das System kam mit dem Mongoleneinfall im 12. Jahrhundert nicht nur ins Schwanken, sondern ist ganz aus den Fugen geraten. Bagdad – das Zentrum des Welt-Judentums – wurde zerstört, der Handel kam zum erliegen und die jüdische Gemeinschaft musste Abhilfe schaffen. Europa war dafür mittlerweile bestens geeignet und war schon für die Aufnahme weiterer Juden vorbereitet. Und hier beginnt auch die Erfolgsgeschichte des polnischen Judentums. Erst wurde Krakau das Zentrum des polnischen Judentums, später entwickelte sich Warschau (und New York) in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zum 2. Epizentrum des Welt-Judentums. In Polen hingegen lebten über 3 Millionen von knapp 16 Millionen weltweit.
Schlußwort
Sie müssen ab heute in ihrem Leben noch zwei Sachen machen. Das Buch kaufen und nach Warschau kommen. Wenn Sie hierhin kommen, dann melden Sie sich bitte bei mir. Wir werden dann gemeinsam ihren Aufenthalt so gut es geht organisieren. Warschau lässt sich nicht schlicht besuchen. Man muss diese Stadt entdecken, intelektuell umfassen und vor allem an sich heranlassen. Andernfalls wird es nur ein schönes Erlebnis. Ich jedoch möchte, dass Sie überwältigt nach Hause fahren und gerne wiederkommen.
Beobachten Sie dieses Buch, bleiben Sie weiterhin Gast auf meinem Blog und vielleicht sehen wir uns eines Tages in Warschau – der schönsten und besten Stadt östlich der Oder.
Basisdaten zum Buch
Information | Bezeichnung |
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Originaltitel | The Chosen Few: How Education Shaped Jewish History, 70-1492 |
Autor/en | Maristella Botticini, Zvi Eckstein |
Verleger | Princeton University Press |
Veröffentlichung | 2014 (2012 Copyright Date, Israel) |
Seiten | 344 |
ISBN | 978-069-116-3512 |
Jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig……
Muss bald nach Warszau kommen und das Buch kaufen:-)
Toller Beitrag!