Land und Leute

Polnische Nationalpsychologie und der Nationalismus

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Während einer kirchlichen Veranstaltung in Deutschland wurden auf einer Leinwand Zitate eingeblendet, die sich um das Thema Frieden und Vielfalt drehten. Ein Spruch zog mein Interesse besonders an und ließ meine Gedanken umherschweifen – „In der Demokratie ist eine abweichende Meinung ein Akt des Vertrauens“. Im Sinne des Friedens, im Sinne der deutsch-polnischen Versöhnung möchte ich, dass Sie mir vertrauen. Lesen Sie den folgenden Artikel über den Nationalismus und Nationalisten mit der Vorwarnung, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ihrem Weltbild – historisch wie aktuell – entsprechen wird und dass er uns genau deswegen weiterbringen wird.

Internationaler Nationalismus und Demokratie – die Anfänge

In der Demokratie ist eine abweichende Meinung ein Akt des Vertrauens

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Absetzung des Zaren Nikolaus im Königsschloss von Warschau

Die Begriffe Nation und Nationalismus haben sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig herauskristallisiert und wurden von Demokraten als Kampfparole gegen die aristokratischen Könige, Kaiser, Zaren und Tyrannen hochgehalten. Heute würden wir jene demokratische Bewegung als linke Bewegung bezeichnen – was schier unglaublich klingt, wenn man bedenkt, dass ein Europa ohne Nationen – ein sogenannter Nationexit ins Nichts – ebenfalls eine linkspolitische Idee ist.

Vor allem die Polen – die größte ethnische Gruppe auf europäischem Kontinent ohne eigenem Staatsgebiet – nahmen zahlreich und voller Enthusiasmus an diesem Siegeszug der Demokratie teil. Waren sie es doch, die unter dieser Tyrannei am stärksten zu leiden hatten. Im Jahre 1795 wurde die Königliche Republik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen zum dritten Mal und endgültig zwischen Russland, Österreich-(Ungarn) und Preußen perfide aufgeteilt. 1815 wurde Polen mit voller Zustimmung aller – außer der Türken – an Russland verkauft, ohne die Polen auch nur im geringsten um ihre Meinung zu fragen (Politik kennt kein Mitleid). Bei all dem Unglück für die polnische Staatsgeschichte kann man von Glück reden, dass es genau in diesem Jahrhundert passiert ist. Ideologisch mit Demokraten und Nationalisten vereint, wurde den Polen bei den Aufständen von 1830 sowie 1863 zwar nicht beiseite gestanden, aber zumindest wurde man gehört – und für die Hingabe verehrt.

Für unsere und Eure Freiheit – das war das Motto der polnischen Aufständischen im 19. Jahrhundert

Von Europa im Stich gelassen – so fühlten sich die Veteranen dieser Freiheitsbewegungen. Doch die Polen hörten bis 1918 nicht auf den Krieg im Namen des Nationalismus und der Demokratie aufopfernd weiterzuführen. Keine Revolution, keine demokratische Party haben sie zwischen 1794 und 1918 ausgelassen. Jedes Mal hissten sie Fahnen mit der Aufschrift „Für unsere und Eure Freiheit“, tränkten die Schlachtfelder Europas mit ihrem Blut und passten das Schlagen ihrer Herzen dem Rhythmus der Ode an die Freude an. Der Frühling der Nationen 1848 wurde von mir nicht vergessen. Ich sagte schon in der Einleitung, dass dieses nun ein anderes Weltbild ist. 1848 kämpften in Europa Nationen, die von den Polen nicht als Nationen verstanden wurden.

Selbstbestimmungsrecht der Völker

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Zweite Republik Polen / Україна derivative work: NNW [CC-BY-SA-3.0]

Das polnische Volk erkämpfte sich das Recht sagen zu können, dass es ausreicht eine Nation zu sein, um ein Staat zu werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist nicht Präsident Wilsons intellektuelle Errungenschaft, sondern vielmehr eine Tochter der Tradition des polnischen Widerstandes und der damit zusammenhängenden Aufstände des 19. Jahrhunderts. Doch zugleich war dieses Prinzip den Machthabern der 2. Republik Polen (1918-1939/1990) ein Dorn im Auge. Nur 65 Prozent der Staatsbürger waren ethnisch polnisch, 10 Prozent waren Juden, unter den restlichen 25 Prozent gab es u.a. Deutsche, Ukrainer, Weissrussen, Russen und Litauer. Die 2. Republik Polen war eines der multikulturellsten Länder Europas. Selbstbestimmungsrecht der Völker? Eigentlich schon und eigentlich nicht immer.

Nationale-Demokratie und ihre Inkonsequenz

Aus der Dreierehe zwischen dem polnisch-nationalen Existenzverständnis, dem internationalen Nationalismus und der Demokratie ging die Nationale-Demokratie (ND) hervor. Ohne nun genauer auf die Einzelheiten eingehen zu wollen, war das Weltbild dieser Gruppierungen klar umrissen, ambivalent erläutert und inkonsequent durchgesetzt. Die Ethnien in den östlichen Gebieten wurden von den National-Demokraten als assimilierbar eingestuft, was der klassischen Idee des Nationalismus evident widerspricht. Die Juden hingegen waren der größte Feind der Gesellschaft und sollten keinen Anteil an der polnischen Wirtschaft haben. Für die ND war klar – die Juden waren in sich eine geschlossene Nation. Nur der Kommunismus war in der Lage diese zu assimilieren. Und dennoch wurden die Juden kritisiert, wenn sie sich dem polnischen Militärdienst entzogen.

Es reicht aus eine Nation zu sein, um ein Staat zu werden

Die Inkonsequenz der National-Demokraten war die größte Schwäche dieser politischen Glaubensrichtung. Und diese Schwäche ist bis heute das Hauptmerkmal der Möchtegern-Nationalisten.

Die jungen Vertreter der ND radikalisierten sich, die älteren wandten sich von diesen ab. Auch daran kann man erkennen, dass sie selbst nicht wussten, wer und was sind sind. Es entstand ein Definitionschaos, welches bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges nicht abschließend geklärt werden konnte. Wenn man bedenkt, dass Menschen von Jahrhundert zu Jahrhundert nicht schlauer werden, sondern ihre Dummheit schlicht an die neue Zeit anpassen, so merkt man heute viel schneller als damals, dass die Nationalisten heute sehr einsame Menschen sind.

Das Schlimmste sollte erst kommen!

Dann kam das Jahr 1939, das Böse, die destruktive Irrationalität des zivilisierten und in Teilen pazifistisch eingestellten Westens sowie des romantisch-revolutionären Ostens. Wir Polen konnten die 4. Teilung nur schweigend hinnehmen, wir konnten nur zuschauen, wie die gigantischen freiheitsbringenden Armeen zwischen Oder und Wolga hin und her marschierten. Am Ende haben alle zugegeben, dass ein großer Fehler begangen wurde. Schön, nicht wahr? Polnische Soldaten gaben ihr Leben für die Eroberung Monte Casinos, die Luftschlacht um England oder die Verteidigung der britischen Kolonien im Nahen Osten. Am 8.Mai 1946 wurde keiner von ihnen zu den Feierlichkeiten eingeladen. Schade, dass die neueVolksrepublik nicht im Interessen- und Einflussgebiet der Alliierten lag. Doch immerhin gab es ja noch den lieben Stalin, nicht wahr?

Die Zeit bis 1990 war geprägt von einem mörderischen Vernichtungskrieg intellektueller Art, dessen Konsequenzen wir bis heute spüren. Es reicht morgens den Politikteil einer Tageszeitung zu lesen.

Polens neues Selbstbewusstsein

Es muss bedacht werden, dass wir 1990 dort anknüpften, wo wir aufgehört haben – also an den beiden Leitmotiven des polnischen Staates, welche da sind die Demokratie und der Nationalismus. Der öffentliche Diskurs nach 1990 geschah in Anbetracht der Ereignisse der 80er Jahre abermals im totalen Chaos. Nun glaubte man jedoch „richtig“ zu denken, denn man konnte ja einfach die entsprechenden Definitionen, Denkweisen und Überlegungen des Westens kopieren. Unsere Väter haben sich leider geirrt, denn nichts davon war an das tatsächliche Erbe der polnischen Geschichte angepasst. 

Seit einigen Jahren schon schwindet die Autorität des Westens dahin wie Schnee im Frühling. Während sich die westliche Medienwelt und Weltöffentlichkeit auf die polnische Politik, auf Herrn Kaczynski und die Opposition (und natürlich Herrn Walesa) konzentriert, hinterfragt die nächste Generation alles bisher Dagewesene. Herr Kaczynski & Co. – so sieht die Solidarnosc–Bewegung auf dem Sterbebett aus. Revolutionieren haben nämlich eine negative Eigenschaft – für sie hört die Revolution nie auf.

Aber es gibt in Polen eine ganz andere Generation,  die sich in Ruhe auf ihre große Aufgabe vorbereitet. Politik ist für die heute 30-jährigen kein großes Thema, weil es gesellschaftliche zu Durchbrechen gilt. Das neue selbstbewußte Polen wird für Westeuropa eine viel größere Herausforderung werden als es Kaczynski mit seinem „verletzten Knie“ sein kann. Man will erstmal Ruhe im Innern schaffen, bevor der Blick nach Außen geworfen werden wird.

Die nächste Generation ist sich ihrer Stellung in der europäischen Familie und des enormen polnischen Beitrages mitsamt der imperialistischen (nicht nationalistischen) Traditionen bewusst. Doch auch hier lauert der inkonsequente Nationalismus und hofft, genau wie in den 1920er und 1930er Jahren, auf ein Mitspracherecht. Und auch dieses Mal vergeblich. Sie wissen sich selbst nicht zu helfen.

Dass der Westen Europas Angst hat vor einem erneuten Aufkommen des Nationalismus hat, ist ohne weiteres verständlich. Doch nicht wir haben in Belgien Menschen nach Lust und Laune abgeschlachtet, nicht wir haben die Ureinwohner Nord-Mittel und Südamerikas, Australiens, Afrikas, des Nahen Ostens ausgebeutet wie Vieh, Chinas zwei Tausend Jahre Kultur gedemütigt und schließlich zwei Weltkriege geführt, bei denen 75 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Der zivilisierte Westen hat in relativ kurzer Zeit sehr viel falsch gemacht, um wertvolle Lehren ziehen zu können.

Polen hat seine westlichen Nachbarn nie präventiv angegriffen, hatte nie eine Kolonie und war bis 1968 der einzige Staat Europas, der die Juden nicht vertrieben hatte. Dadurch, dass unsere Traditionen einen multikulturellen Staat mit einbeziehen, sind auch die Nationalisten in Polen auf der Verliererseite. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie es endlich verstehen.  

Doch nicht Europa wird es ihnen erklären können, weil Europa deren Sprache nicht spricht. Ehrlich gesagt, verstehe ich Europa manchmal auch nicht mehr.

Die Entwicklung ist nicht zu Ende

Das bedeutet jetzt nicht, dass wir jetzt alle Fehler nochmals begehen müssen, um sich am Ende an die Spitze der Moral zu stellen. Doch es ist nicht nötig, dass man sich so viele Sorgen über uns macht. Der Geschichte nach zu urteilen, sollte sich Westeuropa vielmehr Sorgen um sich selbst machen.

Eine Nation, die weiss, wieviel Freiheit kostet, kommt schon zurecht. Man möchte uns gerne mit dem Russland Putins oder der Türkei Erdogan vergleichen – beide Vergleiche sind total abwegig. Russland wird in 100 Jahren nicht so europäisch sein wie Polen und die Türkei … ich denke, ein Kommentar ist entbehrlich. Dahingehend wäre ein Blick in die Geschichtsbücher ratsam, die der Westen noch nicht geschrieben hat? Zwischen Oder und Dnjepr sind viele schöne und interessante Dinge passiert, die nicht mit Blut und Mord erkämpft werden mussten. Sei es die Warschauer Konföderation von 1573, sei es die fantastische und europaweit einzigartige Union zweier „Nationen“ zwischen Polen und Litauen, seien es die Wahlen der polnischen Könige in Warschau (seit 1573), sei es die Verfassung vom 3. Mai 1791 und seien es auch die Sejmiki für die jüdische Bevölkerung im polnischen Königreich, welches auf Hebräisch Polin genannt wurde – Ein Land, in dem man Leben will. Die grösste Ehre, die man der polnischen Geschichte erweisen kann, ist die Wahrheit.

Und dennoch … ! Wir müssen unsere eigene Geschichte sorgfältiger aufarbeiten, wir müssen in Zeiten der eigenen Verantwortung Selbstkritik erneut lernen, vor allem müssen wir lernen mit uns selber klarzukommen. Man darf nicht vergessen, dass sich Polen seit über 200 Jahren nicht sorglos um die eigene nationale Psyche kümmern konnte. Und unsere Psychologen waren bisher alles andere als hilfreich.

Berufung auf polnische Traditionen

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Religionen im Königreich Polen 1573 / grün: orthodox; lila: Kalvinisten; grau: Lutheraner; beige: Katholizismus; sonstige: Arianer und Mennoniten

Die Traditionen der Polen sind ganz andere als jene, welche die nationalistischen Gruppen zu vertreten glauben. Der größte Fauxpas der Nationalisten geschieht dann, wenn sie sich auf die Traditionen der 1. Rzeczpospolita (15. Jahrhundert bis 1795) berufen, denn das hält keinem historischen Vergleich stand. Das polnisch-litauische Commonwealth war das erfolgreichste Konzept eines Vielvölkerstaates in der Geschichte des europäischen Kontinentes.Punkt!

Die Kenntnis der Psychologie einer Nation ist der Schlüssel zur Erkenntnis über ihre Vorgehensweise und Ziele in der Politik. Und ohne Geschichte geht es nicht.


Vielleicht hilft der Beitrag bei der Analyse, warum sich bestimmte Gruppen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und anderen Staaten nicht integrieren, geschweige denn assimilieren lassen und warum sie es nicht wollen. Jeder versteht und sieht die Welt nämlich etwas anders. Je eher das verstanden wird, desto besser….für Alle!


Beitragsbild: Teilnehmer tragen die polnische Flagge während des Unabhängigkeitsmarsches in Warschau am 11. November 2018. Im Hintergrund sieht man grüne Flaggen der nationalistischen Gruppierung ONR / Alexander Kafka Photographiti [Alle Rechte Vorbehalten]

Antoni Administrator
Europäer mit polnischem Herz und deutschem Hirn! Eigentümer des Touristikunternehmens Walking Poland Group, lizenzierter Stadtführer in Warschau, Fotograf, Jurist (1. Staatsexamen), Redakteur
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Antoni Administrator
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