Polen feiert am 11. November 2018 seinen 100. Unabhängigkeitstag. Der Unabhängigkeitsmarsch in Warschau ist Teil der Feierlichkeiten und auch das wichtigste Ereignis des Tages. Obwohl es nur noch drei Tage bis zu den Feierlichkeiten sind, nehmen viele kleinere Streitigkeiten in den Medien ein relativ großes Ausmaß an. Die wichtigsten Streitpunkte sind dabei vor allem Organisation, Ablauf und Inhalt des Unabhängigkeitsmarsches.
Inhalt
Unabhängigkeitsmarsch in Warschau
Alljährlich wird in Warschau am 11. November der wohl größte patriotische (so ist es zumindest gedacht) Marsch Polens und Europas organisiert. Im Jahre 2017 nahmen ca. 60 000 Menschen teil. Der Marsch wurde von ca. 6 100 Polizisten bewacht.
Die Märsche werden seit 2011 vom Verein Stowarzyszenie Marsz Niepodleglosci organisiert. In diesem Verein sind auch die Allpolnische Jugend und das Nationalradikale Lager vertreten. Daher kann man sich die ebenfalls alljährliche Kritik vor allem linker Organisationen und Gruppierungen erklären.
An den Märschen nahmen zudem einige rechtsextreme Gruppierungen teil (eine entsprechende Mengenbezeichnung ist äußerst schwierig zu finden, denn nur ein Neonazi ist schon ein Neonazi zu viel). Es waren beispielsweise Transparente zu sehen mit der Aufschrift „Für ein weißes Europa“ oder „Reines Blut“. Daneben waren zahlreiche Teilnehmer vermummt und hielten Leuchtraketen in die Luft (beides ist in Polen verboten). Wenn man all das nun miteinander vermischt, kann man sich die Verwirrung der eigentlichen Patrioten vorstellen, wenn dieser Marsch als Ganzes als Faschistisch und Rassistisch dargestellt wird. Eine zahlenmäßige Aufteilung im Hinblick auf die tatsächliche Wirkungskraft der rechten Gruppierungen in Polen lässt sich daraus nur schwer herleiten.
Nicht zu verleugnen ist die Tatsache, dass es rechtsradikale, faschistische, nationalsozialistische und weitere Gruppen dieser Art in Polen gibt. Sie haben jedoch nicht die Wirkungskraft und den Einfluß, den manche Beobachter ihnen zuschreiben wollen. Ich bin fest der Überzeugung, dass die Anzahl der Mitglieder dieser Gruppierungen sich stets auf selber Höhe befindet. Es gibt von ihnen weder mehr noch weniger. Vielmehr bedaure ich, dass diesen Verwirrten zu viel negative Aufmerksamkeit geschenkt wird. Will man sie loswerden, muss man sie an sich binden. Für die Medien heisst das: weniger Artikel, mehr Inhalt.
Verbot des Marsches 2018
Am 7. November 2018 gegen 14 Uhr verbot die Präsidentin der Stadt Warschau Hanna Gronkiewicz-Waltz die Durchführung des Marsches. „Warschau hat schon genug gelitten unter dem aggressiven Nationalismus“, sagte die Präsidentin bei der Pressekonferenz. Sie begründete die Entscheidung mit der Unmöglichkeit einer sicheren Durchführung. Sicherheit ist in Polen seit Tagen ein großes Thema, verursacht durch den landesweiten Streik der Polizisten. Sie schloß ihre Ansage damit ab, dass sie sich schon im Juni 2018 brieflich an den Innenminister gewandt hatte mit dem Vorschlag den Marsch gemeinsam zu sichern. Dieser Brief wurde schlicht ignoriert.
Der Veranstalter des Marsches hat die Möglichkeit gerichtlich gegen diese Entscheidung vorzugehen. Im Laufe des Freitages wird eine Entscheidung des Gerichtes erwartet.
Aktualisierung vom 09.11.2018: Das zuständige Gericht hob schon am Abend des 08. November die Entscheidung der Stadtpräsidentin auf. Der Richter betonte, dass das Versammlungsrecht in der Verfassung geschützt ist. Es bedürfe somit zwingender Gründe für die Einschränkung dieser Freiheit. Der Richter legte weiter aus, dass aus dem Begründungsschreiben der Stadtpräsidentin keine konkreten Hinweise hervorgehen, dass das Leben oder die Gesundheit gefährdet sei. Darauf stützt Hanna Gronkiewicz-Waltz ihre Begründung.
Das ist noch nicht alles: Nun wollen einige Mitglieder des Vereins Marsz Niepodleglosci die Präsidentin strafrechtlich verfolgen lassen. Sie habe mit ihrer Entscheidung ihre Macht missbraucht.
Die Stadtpräsidentin kann gegen dieses Urteil Berufung einlegen, was sie auch tun werde. Das Berufungsgericht muss innerhalb von 24 Stunden eine Entscheidung fällen.
In Wroclaw (Breslau) wurde der von der Idee gleiche Marsch ebenfalls von der Stadt verboten. Das Gericht hat die Entscheidung des Präsidenten von Wroclaw aufgehoben.
Der Marsch unter der Obhut des Präsidenten von Polen
Wenn man nun glaubt, dass die Geschichte hier ein Ende nimmt, der kennt die Polen kein bißchen. Kurz nachdem die Präsidentin den Marsch verboten hatte, meldet sich der Präsident Polens Andrzej Duda zu Wort. Der Marsch wird stattfinden, nun jedoch unter der Obhut des polnischen Staates. Formeller Veranstalter wird die Polnische Armee sein.
Das macht die Sache unglaublich spannend, denn ist das mit vielen Problemen und eventuellen Reinfällen verknüpft – auf welche natürlich die Opposition in Polen hofft. Was passiert, wenn die Mitglieder der rechten Gruppierungen dort trotzdem auftauchen (davon kann man ausgehen) und vermummt sowie die Leuchtraketen hochhaltend sich am Unabhängigkeitsmarsch ergötzen? Was passiert mit den Transparenten, die evident dem polnischen Recht widersprechen (werden)? Wird die Polizei einschreiten und die jeweiligen Übeltäter ausschließen?
Alle Politiker der regierenden Recht und Gerechtigkeit (PiS) rufen zur Einheit auf und wünschen sich nur weiß-rote Fahnen – ausschließlich.
Welchen Lauf nimmt das Geschehen, wenn das Gericht die Entscheidung der Präsidentin Warschaus aufhebt? Viele Fragen sind noch offen. In drei Tagen möchten (sollen) alle Polen vereint das größte Gut im patriotischem Hochgefühl feiern. Kaum vorstellbar, wenn man die Nachrichten beobachtet. Gut, dass ich keinen Fernseher habe, sonst würde der Beruhigungstee nicht mehr ausreichen.
Nachdem jedoch nun das Gericht die Entscheidung über das Verbot des Marsches des Vereins Marsz Niepodleglosci aufgehoben hat, werden am 11. November 2018 mehrere parallel verlaufenden Märsche stattfinden.
Es werden wohl am Ende alle marschieren – Richtung vorerst unbekannt.
Weitere große Themen vor dem Countdown
Streik der Polizisten in ganz Polen
Der Aspekt der Sicherheit steht dieses Jahr unter einem großem Fragezeichen – und dabei geht es nicht nur um den Marsch und weitere Proteste und Demonstrationen in Polen, sondern um die Sicherheit des ganzen Landes. Die Polizisten in Polen „streiken“, indem sie sich krank melden. In einigen Wojewodschaften sind zum Teil sogar über 30 Prozent der polizeilichen Sicherheitskräfte „krank“. In einigen Gemeinden wurden daher sogar Polizeistationen geschlossen. Auf der Eingangstür in Dywity steht geschrieben, dass man sich im Notfall an die Nummer 112 melden soll. Das ist die Nummer der Polizei.
Am Samstag stellen die Gewerkschaften den Tag unter das Motto „Das Blut wird fließen“. Die Polizisten sollen Blut spenden gehen, weil man dafür einen Arbeitstag frei bekommt. Wieviel Blut am Sonntag fließen wird, werden wir sehen. Viel kann es ja nicht mehr sein, wenn ja schon so viele „krank“ sind.
Der Polizeipräsident hat mittlerweile zu anderen Mitteln gegriffen. Jeder Polizist, der am Sonntag zur Arbeit kommt, bekommt eine Belohnung von 1000 PLN. So will man noch diejenigen halten, die noch nicht erkrankt sind.
12. November wird kurzerhand zum Nationalfeiertag
Da der 11. November 2018 auf einen Sonntag fällt, hat sich die regierende PiS überlegt dem Volk ein Geschenk zu machen und verlautet voller Stolz, dass der 12. November frei ist. Das wäre eigentlich nichts besonderes, wenn das Parlament ein entsprechendes Gesetz – sagen wir mal – im Januar 2018 beschlossen hätte. Doch die alles entscheidende Abstimmung erfolgte erst am 7. November – 5 Tage vorher. Man kann sich vorstellen, wieviel an diesem Tag in Logistik- und Transportfirmen, in Gerichten, Handelszentren und vielen weiteren Unternehmen geflucht wurde. Die Geschäftswelt besteht nicht aus einem Marktplatz, wo man Tauschhandel betreibt, wenn man es mit seinem Karren zeitlich vor die Tore der Stadt geschafft hat. Polen steht seit September 2018 auf der Liste der 25 am höchsten entwickelten Länder der Welt (developed countries). Die Wirtschaft muss dahingehend Vertrauen haben, dass genau solche Dummheiten nicht passieren. Dieses Vertrauen wurde nun missbraucht.
Was soll man darüber denken?
Das Gefühl, was ich habe, wenn ich mich manchmal vor den Fernseher bei meinen Bekannten setze oder eben doch in die Zeitung schaue (das ist wie bei einem Unfall), dann frage ich mich, warum die Politiker sich so schwer tun einen gemäßigten Umgangston einzuhalten und einfach Politik zu machen. Die zwei wichtigsten Themen sind die kranken Polizisten und der Unabhängigkeitsmarsch in Warschau. Dabei erfährt man fast nichts über die anderen Veranstaltungen wie den schönen Unabhängigkeitslauf in Warschau oder die Musikkonzerte. Die Politiker und Medien haben den eigentlichen Sinn des 11. November aus den Augen verloren. Der Unabhängigkeitstag wird zum Mittel für seine privaten Ziele.
Wir sind seit 1989 unabhängig und entscheiden eigenständig über unser Los. Die regierende PiS und die Opposition sind verantwortlich für diesen seit drei Jahren dauernden unseriösen Streit auf niedrigstem politischen Niveau – mehr kann man dazu nicht sagen. Ehrlich gesagt fällt mir dazu nur noch der Film „Dumm und Dümmer“ ein. Wir wissen lediglich nicht, wer wer ist.
Unabhängigkeitstag am 11. November
Für (die) Polen ist der 11. November das, was für die Franzosen der 14. Juli ist, für die US-Amerikaner der 4. Juli, für die Deutschen … naja … mit viel Phantasie der 3. Oktober.

Am 11. November 1918 entstand aus Teilen des Russischen Zarenreiches, des Deutschen Kaiserreiches und der k. u. k Monarchie die Zweite Republik Polen (Rzeczpospolita). 123 Jahre nach der 3. Polnischen Teilung entstand wieder ein unabhängiges und freies Polen, welches noch bis 1921 gegen die Bolschewiken um die Festlegung der Ostgrenze kämpfen musste. Auf der Karte sieht man die Republik nach dem Friedensvertrag von Riga zwischen der Sowjetunion und Polen sowie dem Anschluß Mittellitauens (mit Vilnius) 1922. Nur 21 Jahre später wurde das von vielen westeuropäischen Politikern als Saisonstaat bezeichnete Polen von zwei totalitären Systemen in Stücke gerißen und verlor nach 6 Jahren Krieg 6 Millionen Staatsbürger. Ohne Staat, aber mit einem Exilpräsidenten, Exilparlament und weiteren quasi-staatlichen Institutionen in London sowie einem weltweit zerstreuten Volk existierte die verweilte die Unabhängigkeit in einer Art „kaltem Schlaf“. 1989 wurde die 3. Republik Polen gegründet. Der letzte Exilpräsident Kaczorowski übergab Lech Walesa 1990 die Insignien des Präsidenten von Polen.
Es ist der wichtigste staatliche Feiertag im Jahr und lockt hunderttausende Polen in die polnische Hauptstadt. Es ist leider auch ein Tag zahlreicher vorangehender Diskussionen,Dispute, Streitigkeiten und Kabaretts in Wort, Schrift und Bild.
Es folgt ein Kommentar von Jens Pepper auf Facebook und meine Antwort. Der Kommentar wird natürlich mit Erlaubnis des Verfassers veröffentlicht:
JENS PEPPER: Dieser Beitrag ist interessant und enthält in der Tat Aspekte, die zumindest in Deutschland nicht so bekannt sind. Eine Sache jedoch möchte ich anmerken. Es wird in diesem Text bemängelt, dass die Medien den rechten und antidemokratischen Kräften, die nur einen Teil des Marsches darstellen, zu viel Bedeutung beimessen, da die breite Masse der Teilnehmer wohl nationalistisch gesinnt aber überwiegend demokratisch eingestellt sei. Hier muss ich entschieden widersprechen! Wenn eine demokratische Mehrheit gemeinsam mit Faschisten läuft, lässt sich diese Masse instrumentalisieren. Ich erwarte von Demokraten, dass sie sich entschieden von rechtsaußen Gesinnten distanzieren, um diesen nicht das Gefühl zu geben, dass sie insgeheim doch wohlgelitten sind. Dieses Akzeptieren der radikalen Minderheit durch die bürgerliche Masse ist es auch, was insbesondere internationale Medien mit Besorgnis registrieren. Zumal gerade im vergangenen Jahr auch der polnische Innenminister (PiS) die Faschisten in einem öffentlichen Kommentar mehr oder weniger als wunderbare Patrioten bezeichnet hat. Wer also an dem Marsch der Rechten am kommenden Sonntag mitmarschiert, unterstützt damit automatisch diese rechtsradikale Minderheit. Besser wäre es, eine eigene Veranstaltung für die Demokraten Polens zu organisieren. Das wäre auch ein Zeichen gegen die schleichende Nationalisierung des Landes.
ANTONI WLADYKA: Freut mich, dass Du den Beitrag gelesen hast 🙂 Es geht allerdings nicht darum, dass den antidemokratischen Gruppierungen zu viel Bedeutung beimessen, als vielmehr, dass sie ihnen zu viel negative Aufmerksamkeit schenken. Es ist kein guter Weg, was man daran erkennen kann, dass man die Verwirrten so nicht auf die eigene Seite bringen kann. Ich sehe eine ähnliche Entwicklung in der polnischen Politik. Die Opposition ist einfach nur gegen Kaczynski und auf dieser Anti-Kaczynski-Haltung basiert ihre ganze Politik. Damit erreichen sie zweierlei: Die, die Kaczynski gewählt haben, werden ihn weiterhin wählen. Die jedoch, die 2015 die Opposition gewählt haben, werden es sich anders überlegen. Dahingehend meine Schlussfolgerung: es geht nicht nur darum, gegen etwas zu sein. Man muss auch die Unentschiedenen, Verwirrten, Rechtsextremen usw. überzeugen können, dass sie sich auf dem falschen Weg befinden.
JENS PEPPER: Das ist der große Denkfehler (in meinen Augen): man wird radikale Fanatiker nicht durch Schulterschluss integrieren und dann bekehren. Ganz im Gegenteil, sie werden sich in ihrer haltung bestätigt fühlen, ganz nach dem Motte „Steter Tropfen höhlt den Stein“. Das funktioniert nicht mit deutschen neonazis, das funktioniert nicht mit Islamisten des Islamischen Staats und das wird auch nicht mit radikal-rechten Nationalisten in Polen funktionieren. Gegen Menschen, die den Staat, genauer, die Demokratie zersetzen wollen, hilft NUR ein konsequentes Sich-Abgrenzen und eine entschiedene Positionierung gegen deren Weltbild.
Bei den unentschiedenen Mitläufern besteht dagegen sicherlich – wie du es schreibst – noch Hoffnung, dass man sie im persönlichen Gespräch überzeugen kann. Man muss ihnen allerdings unmissverständlich klar machen, dass ein Mitläufertum auch zu einer Mittäterschaft führen kann.
Vielen Dank für die Fakten und interessanten Hintergründe.