Feuilleton

Langsam wird es Zeit für euch zu gehen

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Was haben der DFB und die polnische Politik gemeinsam? Die Verantwortlichen wollen einfach nicht gehen, dabei wäre es schon längst Zeit. Für die deutschen Fußballfans geht es jedoch lediglich um die Weltmeisterschaft. Ein Spiel, welches auch verloren gehen kann.

Die Politwelt mit ihren Oldies steuert geradewegs zu auf einen Generationenkonflikt, der irgendwann kommen musste. Die Veteranen wollen ihre Jugend zurück, die jungen Götter hingegen schauen sich um –  im 21. Jahrhundert. 

Die Drahtzieher

Der Vorsitzende der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit und Drahtzieher der polnischen Politik Jaroslaw Kaczynski ist 70 Jahre alt. Lech Walesa, Vorsitzender der Solidarnosc-Gewerkschaft, der erste demokratisch gewählte Präsident der 3. Republik Polen und Friedensnobelpreisträger ist 76 und würde nochmals zur Präsidentenwahl antreten, wenn er nicht intelligente Menschen um sich herum hätte, die ihm das abraten. Schade, dass er 1990 nicht solche Berater hatte. Leszek Miller wurde mit 55 Jahren Ministerpräsident und ist heute mit 73 Jahren weiterhin aktiver Politiker. Bekannt ist seine Aussage, dass man sich für die Volksrepublik nicht schämen brauche. Vor zwei Tagen ist Kornel Morawiecki im Alter von 78 Jahren gestorben. Der Vater des Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, 51 Jahre alt, war bis zum Schluß Sejmabgeordneter und ein heller Stern auf dem Olymp der Waisen. Im Sejm sind genau die Hälfte der Abgeordneten 50 Jahre und älter, das Durchschnittsalter betrug (im Wahljahr 2015) genau 50 Jahre. Jeder zweite ist also in der Volksrepublik erwachsen geworden. Im demokratischen Polen haben sie alle vergessen, wofür sie eigentlich gekämpft haben. Eure Kinder und Enkelkinder sind euch wirklich dankbar für die Aufopferung, aber es wird wirklich langsam Zeit, dass ihr …. in Rente geht!

Was wisst ihr über das 21. Jahrhundert?

Für die Gründerväter des freien Polen ist die Zeit stehen geblieben. Genau so, wie Francis Fukuyama es beschrieben hatte. Die Kommunisten waren (scheinbar) weg, die Geschichte war zu Ende. Saßen sie alle vor 30 Jahren noch nebeneinander, sitzen sie heute gegenüber und führen einen politischen Krieg ohne sich dabei anzuschauen. Noch bei den Kommunalwahlen 2002 stellten die heute regierende PiS und die größte Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) ein gemeinsames Wahlkomittee und wollten 2005 sogar eine Regierungskoalition gründen. Die letzten Zuckungen der Solidarnosc liefern heute ein Trauerspiel ohne Seinesgleichen. Die Selbstzerfleischung zieht jedoch die ganze Gesellschaft in den Boden und zerstört das gute Image des Landes, welches wir vor allem der harten Arbeit des einfachen Mannes und der einfachen Frau zu verdanken haben. Dabei sind die eigentlichen Probleme des 21. Jahrhunderts noch nicht mal in Blickweite der Hauptverantwortlichen.

Was ist mit den 45 Tausend Menschen, die jedes Jahr wegen Smog sterben müssen? Macht ihr euch überhaupt Gedanken über die Konsequenzen des unkontrollierten Fortschreitens der Künstlichen Intelligenz und der Ausnutzung der Big Data? Und was ist nun mit den schwarzen Rauchwolken über Polens Städten? Wisst ihr, dass Polen ein ernsthaftes Trinkwasserproblem hat? Die Zeit flieht davon. Wie es scheint, habt ihr davor aber keine Angst, denn rein statistisch betrachtet, werdet ihr eure Schuld nicht mehr verbüßen müssen.

Stattdessen besteht euer Hobby darin die Kommunisten und KGB-Agenten wie Pokemon zu suchen. Schade, dass ihr dafür keine App habt. Ihr habt euch jedoch eine andere Hauptaufgabe gesetzt: die Fehler bei der Umwälzung 1990 auf alle anderen zu schieben und sich selbst als die Verkörperung des polnischen Patriotismus darzustellen. Hauptsache ist doch, dass eure Enkelkinder im versmogten, verseuchten, ausgetrockneten, plastiküberschütteten und überschwemmten Polen in den Geschichtsbüchern eure lachenden und zufriedenen Gesichter vorfinden.

Wir wollen Fortschritt, nicht Stillstand

Zum ersten Mal in Polens Geschichte gibt es eine Mittelschicht, die sich aktiv gegen das Weltbild der Eltern wehrt. Man liest überall, dass die aktuelle politische Lage den Streit in Familien hervorgerufen hatte. Familien streiten tatsächlich am Sonntagstisch über Politik und verteidigen ihren Politheiligen mit Leib und Seele. Aber nicht die Wahlen 2015, nicht die regierende PiS, nicht Herr Kaczynski sind Schuld an dieser Misere. Es ist das Gesamtbild. Diese Zeit musste kommen. Die Mittelklasse besteht aus Gewinnern der letzten 30 Jahre, vor allem nach dem Beitritt Polens in die EUropäische Union. Die anderen, das sind die Verlierer, die sich in der neuen Gesellschaft und Zeit nicht zurechtfinden. Jene wollen in die Vergangenheit flüchten und gäbe es Herrn Kaczynski nicht, würde sich diese Gruppe schlicht einen Frankenstein-Kaczynski zusammennähen.

Die Erben der Solidarnosc-Bewegung hätten dort bleiben sollen, wo sie waren. Überwältigt von dem Sieg 1990 waren sie überfordert die Staatslenkung zu übernehmen. Sie waren jedoch zu feige, um es zuzugeben. Stattdessen wandeln sie den imposanten Sieg in eine Schlappe um und zeigen kein bisschen Demut.

Ganz schnell haben sie vergessen, wieso man den Kommunismus bekämpfte und sehen gar nicht, dass die Abendnachrichten das Antlitz der 80er Jahre übernommen haben. Je älter, desto nostalgischer wird man. Früher war alles besser, nicht wahr? Und jetzt macht ihr genau das selbe. Was folgt, wisst ihr auch, und legt es ganz drauf an.

Doch die Gewinner, die jungen Götter wählen Fortschritt über Alles, auch wenn es den brutalen polnischen Kapitalismus noch brutaler werden lässt.

Was haben wir im Angebot?

Die polnische Medaille hat leider zwei gleich aussehende Seiten. Was haben die dreißigjährigen in Polens Städten im Gegenzug anzubieten? In Warschau, Danzig, Krakau und Breslau leben die Menschen wie in kunterbunten Blasen, losgelöst, teilnahmslos, abgestumpft und gleichgültig gegenüber den Problemen „einfacher“ Leute in der Provinz. Spricht man die niedrigen Renten unser Omas und Opas bei einem gemütlichen Abendessen an, wird sofort ein Themenwechsel angestimmt: „Hast Du gehört? Die wollen unseren Hunden den Eintritt in den Krasinski-Park verbieten“.

Würde man die alte Garde aus dem politisch-gesellschaftlichen Leben ausschließen, müsste der Politiker in Polen auf die Liste bedrohter Arten gesetzt werden. Die Jungen sind völlig desinteressiert, sofern es um Politik oder gar um eine politische Karriere geht. Die Mitgliederzahlen politischer Parteien sprechen für sich: nur 89 Parteien sind in Polen registriert, gerade mal 0,8 Prozent aller Wahlberechtigten gehören einer politischen Partei an. Schlechter sieht es nur noch in Lettland aus. Zu den vier größten Parteien in Polen gehören nach eigenen Angaben 204.783 Mitglieder. In allen Parteien sind es 251 Tausend, 16 Prozent weniger als noch 2014. Lediglich 30 Millionen EUR betrugen die Einnahmen – aller Parteien insgesamt. Die CDU hat ca. 400 Tausend Mitglieder.

Die Mittelklasse kümmert die Politik nicht. Wichtiger sind Geld, Geld, Urlaub und ein großes Auto. Was die dort in der Politik machen und wieso die Provinzler darauf reinfallen – das interessiert keinen.

Die Probleme erkennen

In Polen ist vieles einfach nicht richtig. Kaczynski soll das Problem sein, dabei liegen die Wunden viel tiefer. In den Städten ist die Politikverdrossenheit extrem, weil sich dort alle in Sicherheit wissen. Umweltschutz hingegen ist ein Problem,welches nur von einem kleinen Teil der Gesellschaft erkannt wird. Polen befindet sich an einem Punkt, der schwer zu lösen sein wird. Wer um Freiheit kämpft, darf nicht erschrecken, wenn er sie endlich erworben hat.

Antoni Administrator
Europäer mit polnischem Herz und deutschem Hirn! Eigentümer des Touristikunternehmens Walking Poland Group, lizenzierter Stadtführer in Warschau, Fotograf, Jurist (1. Staatsexamen), Redakteur
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Antoni Administrator
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