An jedem 1. August um 17 Uhr, zur Stunde „W“, bleibt die Zeit in Warschau für eine Minute stehen. Die Warschauer stehen, verharren in Gedanken und Gedenken, trauern um die sinnlos und brutal rrmordeten Zivilisten, huldigen den heroisch kämpfenden Aufständischen, schauen voller Entsetzen auf die Bilder mit den Ruinen der Stadt und seufzen beim Anblick alter Vorkriegsfotos. Warschau erlebte 1944 sein tragischstes Ereignis in seiner bisherigen Geschichte. Damals ging eine Welt unter, die nur noch in den Büchern zu finden ist. Und dennoch war es ein Aufstand, der geschehen musste, weil es kein Kampf für Freiheit, sondern ein Kampf freier Menschen war.
Ziel und Motiv des Aufstandes
Der Warschauer Aufstand von 1944 hatte grundsätzlich zwei Ziele. Aus militärischer Sicht wollten die sich die Warschauer nach fünfjähriger Demütigung von den deutschen Besatzern aus eigener Kraft befreien. So würde man der sowjetischen Armee zuvorkommen, um das politische Ziel zu erreichen, nämlich die Etablierung eines eigens gesteuerten Systems unter Leitung der Exilregierung in London. Der Sowjetarmee folgten nämlich Zerstörung, Vergewaltigung und Mord, aber auch die Politkommissare, die der „sowjetischen Befreiung“ einen russischen Stempel aufsetzten. Nach dem 28. Februar 2022 muss man das nicht mehr näher erläutern. Die Ziele waren überschaubar und auch nachvollziehbar. Das Motiv hingegen ist weitaus komplizierter. Instinktiv spricht man von einem Kampf um Freiheit und Würde, um die Befreiung von einem totalitären System und die Rückgewinnung des sorglosen Alltags. Aber ich habe einen Aufständischen auch sagen hören, dass sie gekämpft haben, weil sie frei waren. Die Freiheit, so seine Erklärung, wird einem nicht dadurch genommen, dass man ihn einsperrt. Bei Tieren ist es tatsächlich so. Bei Menschen bedarf es mehr. Warschau ist dahingehend besonders. Das Denkmal für die ermordeten Zivilisten im Stadtbezirk Wola verdeutlicht diese Sicht. Es heißt „Das Denkmal für die Gefallenen Unbesiegten“.
Sinn und Sinnlosigkeit
Die Sinnlosigkeit des Aufstandes darf dennoch diskutiert werden, zumindest in einigen Aspekten. Von den fünfzig Tausend Aufständischen hatten gerade mal zehn Prozent eine vollständige Ausrüstung. Die wenigsten hatten eine Waffe und Munition. Zudem lag der Jüdische Aufstand vom April und Mai 1943 nur ein Jahr zurück. Die Zerstörungswut der Besatzer nach Zerschlagung jenes Aufstandes hätte der militärischen Führungselite des polnischen Widerstandes zu denken geben können. Auch wusste man über die brutale Behandlung der Mitglieder des polnischen Untergrundstaates in Vilnius, Augustow und anderen Städten, nachdem die rote Walze vorbeigerollt ist. Der Aufstand durfte also nicht verloren gehen. Das polnische Hauptquartier hätte den Aufstand nur unter der Bedingung beginnen sollen, dass ein Sieg wahrscheinlicher als eine Niederlage war. Man beginnt keinen Krieg, Schlacht oder Aufstand, wenn man sich seiner nicht sicher ist und vor allem, wenn man die Zivilbevölkerung nicht beschützen kann.
Doch es sind nie die Soldaten, die sich darüber den Kopf zerschlagen sollen. Die Kritik trifft vor allem die Führungselite. Ein Soldat führt die ihm aufgesetzten Befehle aus und hinterfragt nicht. Das heißt aber auch, dass wenn der General den Aufstand abblasen würde, dass sich die Soldaten daran halten würden, unabhängig von dem Grad ihrer Wut, ihres Hasses gegen die Besatzer und dem Willen ihr Leben zu opfern. Es wird noch viel Zeit vergehen, bis wir in der Lage sein werden ein objektives Bild unserer eigenen Tragödie darzustellen. Aber wir müssen darüber reden lernen.
Den Soldaten gebürt volle Ehrerbietung! Der 1. August 1944 ist vor allem ein Gedenktag an den heroischen Kampf und die beispiellose Aufopferung der Soldaten. Sie haben einen für drei Tage geplanten Aufstand volle 63 Tage ausgehalten.
[Denkmal des Warschauer Aufstandes von 1944]
Die Tragödie
Nahezu 200 000 Zivilisten und 15 000 Aufständische verloren ihr Leben. Während des Massakers von Wola zwischen dem 4. und 6. August wurden nahezu 50 000 Männer, Frauen und Kinder erschossen und ihre Leichen verbrannt. Auf dem Friedhof der Aufständischen im Stadtteil Wola erinnert ein knapp zwei Meter hohes Grabmal an diese Gräueltat. Das Grabmal beherbergt 12 Tonnen Menschenasche, die nach dem Krieg aus der Erde herausgefiltert wurde. Die Restbevölkerung von Warschau, 600 000 Menschen, wurde zur Räumung der Stadt gezwungen. Anschließend wurde die Stadt auf Hitlers persönlichem Befehl hin in die Luft gesprengt. Warschau sollte bestraft und es sollte der Stadt das genommen werden, was noch übrig blieb: Würde und Stolz! Willkürlich, sinnlos, schamlos, mit voller Brutalität und Härte. Warschau hörte auf zu existieren. Die Stadt musste sich geschlagen geben, sie ist gefallen, und doch blieb sie unbesiegt! Heute ist sie umso stärker und mit Würde und Stolz erinnert sich an ihre Helden von 1944!

Eine Stadt, zwei Aufstände
Der Warschauer Aufstand von 1944 ist in Westeuropa nahezu unbekannt. Ein Grund liegt darin, dass die Volksrepublik Polen hinter dem Eisernen Vorhang keine Möglichkeit hatte der Welt über dieses Drama zu berichten. Mit der Zeit verschwand das Thema von der Bildfläche. Bekannter ist vielmehr der Jüdische Aufstand von 1943. Warschau hat zwar nach 1990 alle Möglichkeiten der freien Welt, um dieses Ereignis bekannter zu machen und den aktiven Anteil an der Bekämpfung und dem Kampf gegen den Nationalsozialismus geltend zu machen, aber der Bekanntheitsgrad Warschau war damals gleich null. Erst seit der EM 2012 erlebt die Stadt ein anwachsen des Interesses und heißt mittlerweile Millionen von Auslandsgästen willkommen. Es wird aber noch viel Zeit brauchen, bis der Aufstand den Bekanntheitsgrad erlangt, den er auch wirklich verdient.
Ehre und Ruhm den Helden
Gleich ist es 17 Uhr. Man spürt wie die Luft in Warschau immer dichter wird, als ob wir alle tatsächlich auf den ersten Schuss warten würden. Die größte Menschenansammlung findet jedes Jahr auf dem Rondo Dmowskiego im Zentrum Warschaus, direkt neben dem Kulturpalast statt. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen begeben sich auf die Straßen und rufen „Czesc i chwala bohaterom“ (dt.; Ehre und Ruhm den Helden). Jedes Mal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn die Sirenen läuten, die roten Fackeln brennen und die Warschauer sich vor ihren Helden verbeugen.
Warschau schaut in die Zukunft. Man merkt es schnell, wenn man hier ist. Doch ohne Erinnerung an den Aufstand von 1944 ist die Stadt nicht zu verstehen, weder heute und sicherlich nicht morgen.Dieses Ereignis hat eine so tiefe Wunde hinterlassen, dass die Vernarbung noch sehr viel Zeit brauchen wird.
Buchempfehlung für deutschsprachige Leser
Es gibt ein deutschsprachiges Buch über den Warschauer Aufstand, welches ich allen, die sich genauer mit diesem Thema befassen wollen, ans Herz legen kann. Das Buch wird sogar von polnischen Historikern empfohlen. Obwohl es 1962 erschienen ist, wurde es erst 2017 ins Polnische übersetzt.
Beitragsbild: Adrian Grycuk via wikimedia | CC BY-SA 3.0
Lieber Antoni,
vielen Dank für Deinen Blogeintrag. Er führt mir die hohe emotionale Bedeutung der „Stunde W“ für die Polen deutlich vor Augen. Er hat für Euch eine ähnliche Bedeutung, wie der Remembrance Day für die Briten, wo jedes Jahr am 11. November dem Beginn des ersten Weltkriegs gedacht wird. Für uns Deutsche spielen beide Daten im öffentlichen Bewusstsein keine Rolle, wir waren in beiden Fällen auf der anderen Seite. Und niemand erinnert sich gerne an Schuld und Versagen.
Dieses Gedenken kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sinn des Aufstands bis heute umstritten ist. Dabei muss man sich vor Augen führen, das Deutschland und Russland 1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt den erklärten Willen gehabt haben, Polen auszulöschen. Bis 1943 war es durchaus Absicht von Stalin und der sowjetischen Führung sich mit Deutschland ähnlich wie beim diesem Pakt auf einen Waffenstillstand zu einigen. Hitlers Absicht und die der oberen Militärs war es, mit der Schlacht am Kursker Bogen die eigene Verhandlungspositionen zu verbessern und den Rücken für die zu erwartende Landung der Alliierten frei zu bekommen. Wo Polen bei einer Einigung geblieben wäre, mag man sich nicht vorstellen.
Mit der Aktion „Burza“ und insbesondere mit dem Warschauer Aufstand hat Polen kraftvoll seinen Lebenswillen bewiesen. Stalin musste den Willen der Polen, einen eigenen Staat haben zu wollen, anerkennen.
Der Warschauer Aufstand spielt in meiner Familie ein besondere Rolle. Mein Onkel war Offizier in der Aufklärungsabteilung der 19. Panzerdivision. Er war beteiligt an der Niederschlagung des Aufstandes in Mokotow und Zoliborz. Das hat dazu geführt, dass ich mich intensiv mit dem Warschauer Aufstand beschäftigt habe.
Es treibt mir noch heute die Schamröte ins Gesicht, wenn ich an die 2 Tage im August in Wola denke. Als Jugendlicher hab ich den Film „Der Kanal“ von Andrzej Wajda gesehen. Ich bekomme noch heute Beklemmungen, wenn ich an die Aufständischen und Zivilisten in der Kanalisation von Mokotow denke. Ich sehe den ungebrochenen Mut der polnischen Aufständischen, die ihren Aufstand gegen die deutsche Übermacht nur aufgegeben haben, nach dem sie als Soldaten und Soldatinnen anerkannt wurden und in reguläre Kriegsgefangenschaft gehen konnten.
Die Buchempfehlung
Der Warschauer Aufstand von 1944.
Bernard & Graefe, Verlag für Wehrwesen, Frankfurt am Main 1962. (Nachdruck: Ars Una, Neuried 2000, ISBN 3-89391-931-7)
kann ich nur bestätigen. Leider gibt es keine Neuauflage. Das ist ein Verlust, denn dieses Buch ist kaum zu verbessern.
Es fehlen die Worte,unbegreiflich!